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Auf der Borderline nachts um halb eins. - Teil V
http://taz.de/blogs/lottmann/2007/06/19/und-weiter-24/
Lottmann läuft zu grosser Form auf ... umwerfend ...
Auf der Borderline nachts um halb eins.
« 11. Kapitel: der Sozialismus!
…und weiter…
In Antwort auf:
Ob es wirklich korrekt gewesen war, diese Festnahme einfach geschehen zu lassen, sich sein gutes „Recht auf Weggucken“ nicht nehmen zu lassen, wie Martin Walser es einst gefordert und durchgesetzt hatte? Das laute Wehklagen des vermeintlich homosexuell veranlagten Mannes verfolgte Ricardo bis in den Schlaf. Wären die Daiquiris, die ihm der schwarze Gartenkellner gemixt hatte, nicht so gut gewesen, hätte er womöglich noch mit dem Nachdenken angefangen. Nein, er sollte sich nicht verrückt machen lassen. Anderen Völkern anderer Kontinente und anderer Kulturen sollte man nicht sein eurozentristisches Weltbild aufdrängen. Dass in Deutschland der Paragraph 175 von bestimmten politischen Parteien mit knapper Mehrheit abgeschafft worden war – so lange war das gar nicht her – mußte nicht bedeuten, dass andere Gesellschaften sich diesem singulären und auch damals umstrittenen Akt gefälligst anzuschliessen hatten. Vielleicht war der Mann ja wirklich ein Homo? Wer war Ricardo, dass er das beurteilen, ja richten konnte? War er der typische Besser-Wessi, der „bad tourist“, der neoliberale Gringo? Nein, er hatte richtig gehandelt.
In Antwort auf:
Aber wenn man die Arbeit auf sich nahm, den Status des Unwissenden, des Laien, des hochmütigen Naiven zu überwinden, wartete in den Stätten der Hochkultur das Glück auf den positiv eingestellten Eleven. Ein Glück, das anders und weit größer war als das Glück in der Bar, im Restaurant oder im Club. Und so sah sich Ricardo Rúiz bereitwillig ein weiteres Mal das „museo de la revolución“ an. Die letzte, oberste der vier Etagen hatte er beim erstenmal nicht geschafft.
Es gab keine Farbfotos von der Revolution. Sie begann zeitgleich mit der Erfindung der Schwarz-Weiß-Fotografie um 1850. José Marti, Urvater der Revolution und 1852 geboren, prangte als fotografiertes Baby an der Wand. Hundert Jahre später hatte sich an Technik und Qualität nichts geändert. Alle Aufnahmen sehen aus wie mit der Agfa Klick I fotografiert und in der eigenen Amateur-Dunkelkammer entwickelt und abgezogen. Aber das macht den besonderen Reiz der Dokumente aus. Überlebensgroß abgezogen sehen sie aus wie Gemälde, wie frühe Arbeiten von Gerhard Richter. Die ungeheure revolutionäre Stimmung teilt sich durchaus mit; auf jeden Fall besser als wenn das superhochauflösende heutige Fernsehen vor Ort gewesen wäre, das auch den kleinsten Pickel im Gesicht Ché Guevaras gezeigt, das schweißnasse Antlitz des begnadeten Volksredners ungerührt mit Halogenstrahlern ausgeleuchtet und ins Menschlich-Banale zurückgeholt hätte. Die Revolution muß Schwarz-Weiß sein, und deswegen wird der comandante einen Teufel tun und das westliche Farbfernsehen einführen.
Ricardo sah sich noch einmal alle Exponate an, in allen vier Stockwerken. Castro bei der Unterschrift, die alle Amerikaner enteignete. Die schöne Frau des ermordeten Kämpfers, die einen Batista-Soldaten vor dem Revolutionstribunal anklagt. Die ersten ambulanten Krankenhäuser, die auf Jeeps eingerichtet werden. Die Rede des comandante vor zwei Millionen Kubanern am Platz der Revolution am Tag nach der Machtergreifung. Die ersten neugegründeten Landwirtschaftschulen. Die neu gegründete Jugendorganisation. Die ersten beiden Mitglieder der vom camandante gegründeten Kinderorganisation „Junge Pioniere“. Die Gründung der Massensportverbände. Das kommunistische Manifest im Lehrplan der Grundschulen. Die Errichtung von wohntauglichen Arbeitersiedlungen und die Grundsteinlegung zur einmillionsten Plattenbauwohnung für verdiente Werktätige, und so weiter und so fort. Ricardo war diesmal noch beeindruckter als beim erstenmal. Er konnte nun auch seinen Kollegen Christian Kracht besser verstehen, der gerade ein Buch über Nordkorea herausgebracht hatte. Das war noch in Berlin gewesen, lange her und weit weg inzwischen. Ricardo hatte Kracht beiseite genommen, während eines Empfanges in der nordkoreanischen Botschaft, wo das Buch offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, und hatte gefragt, wie er, Kracht, es denn mit der Demokratie halte. Heute würde Ricardo sowas nicht mehr fragen. Er überliess sich ganz seinen Eindrücken. Sein „Bauch“ sagte ihm, dass es die Menschen im kommunistischen Kuba besser hatten als im kapitalistischen Kongo. Jedes Kind ging zehn Jahre zur Schule. Wenn es krank wurde, kam es ins Krankenhaus und wurde wieder gesund. Arbeitslosigkeit war unbekannt.
In Antwort auf:
In Kuba waren Castro-Witze natürlich streng verboten und man kam dafür ins Arbeitslager. Aber die Witze waren in der Regel gar nicht böse. Einer ging so: „Fidel Castro stirbt eines Tages DOCH NOCH und kommt anschliessend in die Hölle. Was macht er gleich als erstes? Er läßt dort Krankenhäuser und Schulen bauen.“
Für die Leser, die kapitalistische Diktaturen in der Dritten Welt als das bessere Modell empfehlen, sei am Rande bemerkt: Im Kongo kommen auf einen Arbeitnehmer 15 Hungerleider, die er durchfüttern muß. Kinder gehen nicht zur Schule, sondern überlegen sich, ob sie nicht an einem Genozid teilnehmen wollen, mal eben eine Million Landsleute mit der Machete erschlagen, wie in Ruanda. Fast alle sterben bald an Aids, und 90 % der Aidskranken glauben, nur Sex mit einer Jungfrei könne diese Krankheit besiegen.
In Antwort auf:
Eigentlich war Ricardo hochgradig autistisch und voller Menschenangst, aber das gab sich nun, zwangsläufig. Und wann immer er einen Anfall von Panik fühlte, sah er einen Polizisten in unmittelbarer Nähe Wache schieben. Das beruhigte ihn natürlich. In der Nähe der bewaffneten Staatsmacht würde es keiner wagen, ihm weh zu tun. Die kubanische Polizei war auch nicht korrupt. Die Beamten hatten ihren Eid auf Fidel Castro geleistet, und das verpflichtete.
Klasse!
http://taz.de/blogs/lottmann/2007/06/19/und-weiter-24/
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