Auf der Borderline nachts um halb eins: 12. Kapitel: Santiago de Cuba…und weiter in der Karibik… »

23.06.2007 07:03 (zuletzt bearbeitet: 23.06.2007 07:09)
#1 Auf der Borderline nachts um halb eins: 12. Kapitel: Santiago de Cuba…und weiter in der Karibik… »
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12. Kapitel: Santiago de Cuba…und weiter in der Karibik… »

…und weiter…


Ricardos neuer und alter Freund entwickelte völlig neue gute und schlechte Eigenschaften. Zum einen stellte sich bald heraus, dass er, also Matthias Politicky, keineswegs mehr der kultivierte Mann war, den Ricardo einst gekannt hatte. Und er sah auch nicht mehr gut aus. War er einfach nur alt geworden? Sah vielleicht auch Ricardo so verlebt aus? Nein, das war unwahrscheinlich. Ricardo gefiel sich im Spiegel immer besser, seitdem er Kuba betreten hatte. Eigentlich mochte er sich zum erstenmal seit Jahren wieder leiden, wenn er sich im Spiegel sah. Es konnte natürlich an den kubanischen Spiegeln liegen, die recht stumpf und auch im Badezimmer unbeleuchtet waren. Ein weiterer geschickter Zug von Fidel Castro wahrscheinlich, der sich bekanntlich auch um die kleinsten Details kümmerte. Seine Landsleute konnten sich so leiden, auch wenn sie älter wurden.

[...]

Tja, und so kam es, dass sie beide ganz langsam in das Nachtleben der karibischen Millionenstadt einsickerten. Für Ricardo war die erste Veränderung, dass er von Stunde zu Stunde seltener angesprochen wurde. Noch in Havanna sprangen die Hooker, Straßenhändler, Hurensöhne, Abzocker und Touristenjäger im Sekundentakt auf ihn zu. In Santiago waren es schon weniger Nervtöter, die etwas von ihm wollten, die in ihm die Brieftasche auf zwei Beinen sahen. Als es dunkel wurde, laberte ihn kaum noch jemand an. Um Mitternacht überhaupt niemand mehr. Er hatte den Gang, die Motorik, die Ausstrahlung der einheimischen Bevölkerung angenommen. Er wurde nicht mehr als Fremder wahrgenommen. Er war ein Teil Afrikas geworden.

Ricardo fühlte sich wahnsinnig wohl. Er sah den neuen Ort nicht nur, er WAR der neue Ort. Er war die Karibik. Und natürlich hielt er dieses neuartige Erlebnis in gewisser Weise Politicky zugute. Ricardo spürte jeden Muskel, jeden Knochen, die Schultern, den Rücken, die Beine. Sein weiter Tropenanzug, den er extra für die Reise gekauft hatte, der aber bisher nie richtig gewirkt hatte, machte aus ihm plötzlich einen Stammgast aus Marty´s Café aus dem Film „Casablanca“. Ein leichter Wind fuhr in das Jackett, wehte die vorderen Teile mal auf, mal zu. Stunden schon gingen sie durch die Hafengegend und fühlten sich alles andere als erschöpft oder angestrengt. Dann setzten sie sich in die zur Straße führende Veranda eines alten Grand Hotels und warteten auf den Kellner. Der kam nicht, und Politicky sagte, er müsse einmal für eine Stunde weg, Ricardo solle solange ein paar Daiquiris trinken. Er verschwand mit einer Frau, die Ricardo kaum mitgekriegt hatte, es war ganz schnell gegangen.

Dann saß er da und wurde schlagartig nüchtern und traurig. Was war das für eine blöde Situation? Er kannte doch hier niemanden. Doch kurz darauf wurde er durch die Stäbe des Holzzauns, der die Terrasse vom Straßenbetrieb trennte, angesprochen. Ein junger Mann wollte wissen, ob er traurig sei.

„Si!“ brüllte Ricardo.

Der junge Mann deutete auf ein blondes junges Mädchen am anderen Ende des Zauns und fragte, ob Ricardo das Mädchen als Tischbegleitung wolle.

„Si!“ rief Ricardo sehr überzeugt. Er hätte jetzt jeden und jede akzeptiert. Außerdem sah das Mädchen dermaßen süß aus, dass man sicher davon ausgehen konnte, dass sie sogar von Nahem noch einen Rest dieser Fern-Schönheit haben würde, egal wie kurzsichtig man war. Das Mädchen kam heran, sie war vollkommen schön, fehlerlos, total süß, und ganz reizend. Konnte es so etwas überhaupt geben? Welchen Voodoo hatte Politicky da zum Laufen gebracht, welchen Zuhälter hatte er bestochen? Ricardo hatte noch nie ein so süßes Mädchen getroffen, dass ihn dann auch gleich übergangslos mit sanften, schmatzenden, naiven Küssen bedeckte. Sie war undefinierbar Anfang bis Mitte 20 und fragte nach wenigen Eingangsworten, ob er sie heiraten wolle. Zugleich massierte sie mit ihren unschuldigen Kinderhänden seinen Unterleib. Die blonden Haare waren natürlich gefärbt, aber glatt, und das Mädchen insgesamt eine Mulattin. Der Zuhälter, der sich als ihr Bruder ausgab, sagte, sie sei eine Mulattin, da ihr Vater schwarz sei, während er, der mit ihr dieselbe Mutter hatte, weiß sei, da sein Vater weiß sei. Ein Halbbruder also. Auch dieser Halbbruder sagte sehr schnell, dass Ricardo seine Halbschwester heiraten könne. Das könne schon am nächsten Tag geschehen. Alle drei wurden vom Zuhälter alias Halbbruder in eine Bar geführt, die unmittelbar neben dem Grand Hotel lag. Dort liess Ricardo gezielt vier bis sechs Daiquiris in sich hineinlaufen, denn er wollte seine gute Laune auf keinen Fall mehr verlieren, und das wäre passiert, wenn er langsamer getrunken hätte. Denn die Bar war schäbig, eine Wellblechhütte, die eher nach Lagos oder Accra gepaßt hätte, und der Barkeeper sah wie ein ganz besonders mieser und kleiner Gangster aus. Nach fünfundzwanzig Minuten sollte Ricardo 85 Dollar bezahlen, für die Drinks. Er war aber nun gut betrunken und nicht mehr einzuschüchtern. Er legte fünfzig Dollar auf den Tisch, umarmte den kleinen Gangster und ging. Der begann fürchterlich Stunk zu machen, schimpfte böse wie ein ekliger Rapper, aber Ricardo umarmte ihn einfach ein zweitesmal, sprach ihm gut zu, lächelte, und ging weiter Richtung Ausgang. Das hatte der Bösewicht wohl noch nicht erlebt. Eine lebende Brieftasche, gerade schön abgefüllt, verließ seine Räuberhöhle einfach wieder, und lachte dabei.

Draussen wurde der lästige „Halbbruder“ endlich weggeschickt und ein Stundenhotel aufgesucht. Es war nur fünfzig Schritte von der Wellblechbar entfernt.

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23.06.2007 07:09
#2 RE: Auf der Borderline nachts um halb eins: 12. Kapitel: Santiago de Cuba…und weiter in der Karibik… »
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…und weiter in der Karibik…


Zwei abenteuerliche Herren in den besten Jahren, vornehmer gekleidet als die arme Bevölkerung, schlenderten übermütig die Calle José A Saco entlang, Ricardo Rúiz und Matthias Politicky. Die letzte Nacht war natürlich ihr Thema, und nichts freute Ricardo so sehr wie die Tatsache, endlich darüber berichten und vor allem schreiben zu dürfen. Denn die kleine blonde Mulattin war weder seine Frau, noch stand sie ihm nahe, und so galt das Schreibverbot in ihrem Falle nicht. Es handelte sich mitnichten um Verrat, wenn er seinem neuen Freunde die eben zuende gegangene Liebesnacht in allen Einzelheiten schilderte. Selbst Rainald Goetz konnte ihm daraus keinen Strick drehen, denn er hatte für jede Minute, jede Liebkosung, jedes nette Wort, jede weitere Runde bezahlt.

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