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Santiago vor Ostern
#1 Santiago vor Ostern
Fußmarsch durch Santiago
Der Tag ist sonnig. Durch Erfahrung klug geworden, gehe ich schon Montag zur Viazul-Station, um für Ostersonntag ein Ticket zu erwerben. Ich will den Nachtexpress nach Havanna nehmen.
Ein Fußmarsch ist angesagt. Ich laufe die Calle Reloj herunter, quere am ehemaligen Uhrenturm die Avenue und laufe wieder die Straße herauf. Vorbei an der vorrevolutionären Coca-Cola-Reklame, die verblichen an einer Häuserwand zu entdecken ist. Auch hier stehen Häuser zum Verkauf. Es geht an der Gitarrenfabrik vorbei, einer in einer Baracke untergebrachten Kirchen der Bautisten und schließlich kurz vor einem kleinen Biergarten biege ich nach rechts zum Platz der Revolution ab. Den kleinen Obst- und Gemüsemarkt sehe ich zum ersten Mal.
In der Station geht alles nach Plan. Der Schalter hat auf und im A3-Buch der Reservationen bin ich Nummer drei. Ich reiche meine 51 Cuc rüber, verstaue sorgsam die beiden Fahrscheinschnipsel und studiere erstaunt den Fahrplan. Die Ankunftszeit ist durchgestrichen. Statt 5.30 Uhr sollte der Express nun erst 7.30 Uhr da sein.
Ziel ist jetzt das Neubaugebiet. Zuvor noch einen Abstecher zur Universität Oriente. Ein Gärtner sprengt mit einem Schlauch den Rasen. Neben den Universitätsbauten stehen kleine Häuser. In einer Nebenstraße ist in einem einstöckigen Gebäude eine Grundschule untergebracht. In der gleisenden Sonne rennen die Kinder um Verkehrskegel. Wer zuerst am letzten angelangt ist, läutet eine dort stehende Handglocke.
Dann geht es entlang der großen Zufahrtstraße zum Neubaugebiet. Lastwagenbusse fahren an mir vorbei, Metro-und Schulbusse, Routentaxis, amerikanische und russische Oldtimer, Motor- und Fahrradräder. Den aus Betonplatten bestehenden Fußweg habe ich fast für mich allein. Einige Platten sind zerbrochen. Die Wurzeln von Bäumen haben sich durchgesetzt. Andere Platten sind ganz verschwunden. Ich kommen an einem futuristischen Gesellschaftsbau vorbei, der wohl in den 80er Jahren errichtet worden war. Der Tropensturm hat sich an den großflächigen Dachflächen ausgetobt. Die Schäden sind noch beachtlich. Von den großen Buchstaben der Aufschrift „Sala Polivalente“ hängt das zweite „L“ bedrohlich nach unten.
Auf der anderen Straßenseite sind Neubauten aus dem Boden geschossen. Sie sind in grellen Farben angestrichen: gelb, blau, grün, rosa. Die neuen Besitzer stehen auf den Balkonen und blicken zufrieden. Andere Häuser sind noch im Rohbau. Die Fahnen Venezuelas und Kubas flattern im Wind. Dieser treibt auch ein paar Wolken vor sich her, die immer wieder für willkommenen Schatten sorgen. Die erste Fußgängerüberführung taucht auf. Ich laufe weiter. Ein mit Wasser gefülltes Schwimmbecken ist zu erkennen. Kein Mensch badet, es gehört wohl zu einem Sportkomplex. Dann steht auf der linken Seiten ein seltsamer Komplex. Es handelt sich wohl um ein Luxusrestaurant. Aber hier draußen? „Las Américas“ steht draußen in großer Schrift und „Restaurante“ sowie „Tropicana“. Lustlos sitzt eine weiß gekleidete Gastronomin vor dem Eingang. Ich habe auch keine Lust, die breite Fahrbahn zu queren, um zu sehen, was das ist. Es reicht, dass keine Menschen da sind. Dann taugt es bestimmt nichts oder es ist zu teuer.
Ich will eine Familie in Micro 7 besuchen. Beim letzten Kubaaufenthalt, als ich mit dem 24er Metrobus für ein paar Centavos gefahren bin, hatten mich mehrere Kubaner nacheinander so falsch geschickt, dass ich diesmal ohne Probleme das richtige Haus finde.
Einer der Anwohner muss Spezialist für amerikanische Oldtimer-Lastwagen sein. Denn gleich zwei stehen in ihre Einzelteile zerlegt auf der Straße. Das Familienoberhaupt ist da, außerdem ihr Freund, eine der Töchter und mehrere Kleinkinder. Ich liefere die Fotos vom Januar ab und flüchte nach einer halben Stunde. Es ist dreckig und stinkt. Das ist eigentlich selten und liegt eindeutig an der Familie, denn ansonsten habe ich Kubaner, auch unter viel beengteren und ärmlicheren Unterkünften nur als sehr saubere Menschen kennengelernt.
Ich laufe quer durch das Neubaugebiet. Vor einem Achtgeschosser überlege ich, ob ich die Hauptstraße weiterlaufe oder zurückgehe, um mit einem Camion zurück ins Zentrum zu fahren. Vorbeilaufende Kubaner mustern mich zwar neugierig, aber keiner will helfen oder etwas helfen. Das ist angenehm. Auch deswegen laufe ich weiter und komme an einen kleinen Platz mit einer Kirche. Hier stehen die letzten Neubauten und es ist eine Endstation für die Lkw-Busse.
Die Straße, die Richtung San Pedrito führt, ist gesäumt von einstöckigen Gebäuden. Insbesondere die hölzernen haben schwer gelitten. Aber auch andere sind seit dem Tropensturm vom 18. Oktober schwer beschädigt. Oft fehlen noch immer die Dächer. Hinter den Häusern leuchten die weißen Grabmale des Friedhofs Santa Ifigenia. Das Haupttor ist verschlossen, aber ein Nebeneingang offen. Ich habe trotzdem keine Lust, über den Friedhof zu laufen. Wie weit die wohl mit dem Mausoleumsbau für Fidel sind?
Die Glocke läutet, also wird gleich eine Wachablösung stattfinden. Seltsamerweise ist weit und breit kein Sicherheitsmann zu sehen, die sonst immer die Touristen hinter breite weite Linien zurückweisen. Die drei Soldaten kommen aus der Wache marschiert. In diesem Moment fährt ein Dumper vorbei, auf der Radschaufel sitzen drei halbnackte Arbeiter und grinsen vergnügt zu der einem der marschierenden Soldaten herüber, es ist eine Soldatin. Deutlichere Bemerkungen getrauen sie sich nicht.
Ich quere die Brücke, unter der das Abwasser des Plattenbaugebiets in Richtung Meer läuft. Wieder kommen ein paar mehrstöckige Häuser im Rohbau. Die Arbeiter erhalten gerade ihr Mittagessen, angeliefert per Essensbehältern und Plasteeimer auf einem Lastwagen. Der Rohbau sieht wenig vertrauenserweckend aus. Für deutsche Verhältnisse zu dünne Außenmauern und die scheinen auch nicht ganz im Lot zu sein.
Dann kommt der Schock: San Pedrito. Zwar hatten mir schon im Dezember Freunde erzählt, dass dieser Stadtteil am meisten unter „Sandy“ gelitten hatte. Damals hatte ich aber keine Zeit gehabt, vorbeizuschauen. Ich hatte große Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Natürlich, die Straßen sind noch da, aber es fehlen ganze Quartiere. Mühselig orientiere ich mich und finde das Haus von meinem Freund Santiago. Das ist erst im August fertig geworden und stabil, mit einem Betondach errichtet. Alles in Ordnung, auch am Nebenhaus, aber das einst protzig wirkende dreistöckige Haus gegenüber hat nur ein Behelfsdach. Andere Häuser sehen zwar noch immer schick aus, aber beim genauen Hinsehen entdeckt man: das Dach fehlt.
Santiago ist nicht da, dafür seine Ehefrau und der Sohn. Das ist zwar schade, aber andererseits schön für ihn. Die Schokoladenfabrik, in der er angestellt ist, arbeitet wieder. Ich laufe weiter, zur Betonwand der ehemaligen Barcadi-Rumfabrik, in der heute Bier produziert wird. Vor einer Holzhütte sitzt eine junge Frau und lächelt. Wir kommen ins Gespräch. Auch ihr Haus hat „Sandy“ weggepustet. Sie zeigt nebenan die Überreste: An das Haus erinnern eigentlich nur noch die Bodenfliesen. Jetzt wohnt sie in einem Holzhaus aus Brettern und den Überresten von Spanholzplatten von Überseekisten. Alles ärmlich, provisorisch und sehr sauber. Auf dem schmalen Bett schläft sie mit ihrer Mutter, die arbeiten ist. Die achtjährige Tochter ist bei der Großmutter untergebracht.
Ich laufe dann die Carretera de Barcadi entlang. Unterwegs spricht mit Eduardo an, der einst in der DDR gearbeitet hat und sein Deutsch an mir testet. Er ist sprachlich noch gut in Form, bemüht sich aber zu sehr, mir schon nach drei Minuten Zigarren, Chicas und alten Rum, natürlich alles zu Spezialpreisen, zu verkaufen. Kein Bedarf, ich verabschiede mich.
Laufe in Richtung Zentrum und hocke mich ins „La Curvita“. Das Pesobierchen habe ich mich wirklich verdient. Der Biergarten ist voll, kaum Frauen. Die lustigen Sprüche an den Wänden sind übertüncht. Zu Essen gibt es nicht. „Später“, sagt die Kellnerin. „Was später heißt?“; will ich wissen. Sie zuckt die Schultern. Ein paar Meter weiter gibt es Sprotten und Pommes für 10,50 MN. Schmecken lecker, aber mehr als eine Pappschachtel ist nicht drin.
Ich marschiere den Berg heraus zum Cespedes, die Heredia entlang und sinke am Boulevard auf eine Bank. Mocho taucht auf, grinst und deutet mit zwei Fingern an, warst Du verrückter Typ wieder zu Fuß unterwegs? Ich nicke. Er zieht eine kleine Rumflasche aus der Tasche. Loco aleman, trink erstmal was.
#6 RE: Santiago vor Ostern
Das ist schon ein bisschen eine aus den Fugen geratenen Ticket-Ankaufsbummel. Respekt! In der Hitze hätte ich noch kein Viertel deiner Strecke zu Fuss geschafft. Aber nur so sieht und erfährt man eine Stadt richtig, spürt das Ambiente und kommt mit den Menschen ins Gespräch.
Sehr schön José Ramon. Bitte mehr von dem wenn du noch Lust hast.
Klar,die Cubaner schütteln über solche Wanderungen nur den Kopf.
Bei mir gehören solche Touren in meinen Urlaub immer dazu.
Ausflüge zu Fuß zum Castillo del Morro oder zum Grand Piedra sind hart aber auch interessant und schön.
Wenn die Kräfte schwinden einen Zuckerrohrsaft oder ein Bier und weiter gehts
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