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"Ein Wahlzettel macht nicht satt"
"Ein Wahlzettel macht nicht satt"
Schweizer Soziologe Jean Ziegler provoziert mit seinen Thesen in Hamburg
"Alle sieben Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an den Folgen von Unterernährung. Im Laufe dieses Abends werden mehrere tausend Kinder verhungert sein." Mit dieser Feststellung eröffnete der Schweizer Soziologieprofessor Jean Ziegler am Mittwoch abend eine Diskussionsrunde, zu der Gruner und Jahr geladen hatte. "Globalisierung als Gefahr für die Zivilisation" war das Thema der Veranstaltung.
Seine Analyse des Zustands in der Dritten und Ersten Welt: In den vergangenen Jahrzehnten sind auf der Erde unglaubliche Reichtümer entstanden, das Welt-Bruttosozialprodukt hat sich in den letzten zwölf Jahren fast verdoppelt. "Wir könnten ohne Probleme zwölf Milliarden Menschen ernähren. Das heißt: Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet."
Die Hauptursache dafür sieht er in den Folgen der Globalisierung und in dem Werteverständnis in den westlichen Industrienationen.
Kontrovers diskutiert wurde Zieglers Aussage, Kuba sei ein positives Beispiel für ein Entwicklungsland, weil die Menschen dort nicht hungern müßten. Justizsenator Roger Kusch (CDU), der zu den geladenen Gästen gehörte, kritisierte diese Aussage, weil in Kuba die Menschenrechte nicht geachtet würden.
Ziegler konterte mit einem Brecht-Zitat: "Ein Wahlzettel macht den Hungrigen nicht satt." Er wolle solche Probleme nicht unter den Tisch kehren, sehe aber wichtigere Probleme für die Weltgemeinschaft, so der Soziologe.
In Antwort auf:
Brecht-Zitat: "Ein Wahlzettel macht den Hungrigen nicht satt."
stimmt soweit. Jedoch können richtig angelegte und ausgefüllte Wahlzettel bzw. das Wahlergebnis durchaus für eine Regierung sorgen, die die wirtschaftliche Entwicklung zum Wohle aller Beteiligten voranschreitet.
Was ja nun in Kuba bekanntermassen nicht der Fall ist.
Die Alternativen heißen nun mal nicht Hunger vs. freie Wahlen.
Keine Signatur sagt mehr als tausend Worte!
¡Danilismo o muerte!
#3 RE: "Ein Wahlzettel macht nicht satt"
Demokratie macht satt - der indische Ökonomienobelpreisträger Amartya Sen
Amartya Sen (* 1933)
Entwicklung als Freiheit - Demokratie gegen Hunger
Christoph Wagner
Einer breiteren Öffentlichkeit ist der Inder Amartya Kumar Sen durch die Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie im Jahr 1998 bekannt geworden. Geehrt wurde er für seine Beiträge zur Wohlfahrts-Ökonomie. Innerhalb seiner Disziplin der Wirtschaftswissenschaften ist er insofern als „Außenseiter“ anzusehen, als er immer wieder die Ökonomie mit Fragen der Ethik und Moral in Verbindung bringt. Sein Erkenntnisinteresse gilt u. a. der Analyse von Hunger und Armut, Fragen der Einkommensverteilung, der Lebenschancen und „capabilities“. Der Entwicklungsbegriff, wie Sen ihn versteht, hat nichts zu tun mit einem auf reine Wachstumsfixierung reduzierten Verständnis von Entwicklung. Konstitutiv für Entwicklung im Sinne von Sen ist der Abbau von Unfreiheiten, die die Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des Einzelnen einschränken.
I.
Amartya Kumar Sen wurde am 3. 11. 1933 in Santiniketan in Indien geboren. Im Alter von neuneinhalb Jahren kam der aus einem gut situierten Elternhaus stammende Sen mit der Hungersnot in Bengalen, die mehrere Millionen Menschen das Leben kostete, in Berührung. Diese unmittelbare Konfrontation mit menschlichem Leid hat ihn in seinem Sozialisationsprozess vermutlich so stark beeinflusst, dass sich daran zu einem wesentlichen Teil auch sein späteres wissenschaftliches Erkenntnisinteresse ausrichtete.
Nach dem wirtschaftswissenschaftlichen Studium in Kalkutta (BA 1953) setzte er seine Studien in Cambridge fort (BA 1955, MA 1959) und promovierte dort 1959. Während dieser Zeit hatte er bereits mehrere Auszeichnungen erworben, darunter 1954 den Adam Smith Prize der Cambridge University. Als Gastdozent bzw. -professor war er in den 60er Jahren tätig am Massachusetts Institute of Technology sowie an den Universitäten Stanford, Berkeley und Harvard. Sen lehrte als Universitätsprofessor in Delhi (1963-71), an der London School of Economics (1971-77) und in Oxford (1977-88). Die folgenden zehn Jahre war er Lehrstuhlinhaber der Lamont-Professur sowie der Professur für Wirtschaft und Philosophie an der Harvard University. 1998 kehrte er zu seiner Alma Mater an das Trinity College nach Cambridge zurück.
Die internationale Reputation von Amartya Sen kommt nicht zuletzt zum Ausdruck durch die Verleihung von Preisen wie dem Alan Shawn Feinstein World Hunger Award und dem Giovanni Agnelli International Prize in Ethics (beide 1990) sowie einer Reihe von Ehrendoktorwürden u. ä. in verschiedenen Ländern. Sen war u. a. Präsident der Development Studies Association, der International Economic Association und der Indian Economic Association. In den 90er Jahren wurde er als erster Nichtamerikaner zum Präsidenten der American Economic Association gewählt. Bereits längere Zeit war der Name Sen im Gespräch, wenn es um den Ökonomie-Nobelpreis ging. Doch erst 1998 wurde ihm die Ehrung zuteil.
Zu seinem Selbstverständnis als Ökonom befragt, soll Sen nach Bekanntgabe der Entscheidung des Nobelpreiskomitees geantwortet haben: „Wenn die Leute hören, dass ich Ökonom bin, fragen sie mich, wie sie ihr Geld anlegen sollen. Ich sage ihnen dann, dass ich dazu keinen Rat geben kann und dass mich vielmehr die Menschen interessieren, die kein Geld haben, um es anzulegen.“
[...]
Und entgegen den Vorwürfen an den „frühen“ Sen, er lasse die politische Dimension unberücksichtigt, nimmt seit einiger Zeit der politisch-institutionelle Aspekt in seinen Überlegungen eine zentrale Bedeutung ein. Heute wie schon in seiner Abhandlung von 1984 unter dem Titel „Resources, Values, and Development“ wird er nicht müde, auf das Phänomen hinzuweisen, dass sich in Demokratien mit einem funktionierenden Parteiensystem, regulär stattfindenden Wahlen und einer freien Presse nie größere Hungersnöte ereignet hätten. Und dies gilt unabhängig davon, ob es sich um reiche oder ärmere Demokratien wie beispielsweise Indien handelt. Nach Sen ist es kein Zufall, dass sich in Indien die letzte große Hungersnot vier Jahre vor der Unabhängigkeit ereignet habe.
Eines seiner entscheidenden Argumente für den Zusammenhang von politischem System und Hungersnöten ist, dass in Demokratien auch die Herrschenden im Falle einer Hungersnot unter deren Folgen zu leiden hätten. Sie müssen zumindest mit ihrer Abwahl rechnen, wohingegen Diktatoren Hungersnöte in ihrem Land unbehelligt überstehen. Anders formuliert: „In Ländern, in denen es keine Wahlen oder Opposition gibt, brauchen sich die Regierungen nicht um die politischen Folgen zu kümmern, die sich aus ihrem Versagen bei der Armutsbekämpfung ergeben.“ Im Unterschied zu Diktaturen weisen in einem demokratischen System auch freie Medien in der Regel auf gesellschaftliche Missstände hin, die eine Hungersnot verursachen könnten.
Anknüpfend an diese Überlegungen hat Sen sich in jüngerer Zeit auch intensiver in die Diskussion um die Demokratie als universalen Wert eingeschaltet, die auch und gerade im Kontext der asiatischen Wertedebatte geführt worden ist und noch geführt wird. In einem Artikel in der Märzausgabe 1999 des Journal of Democracy wendet er sich dabei sowohl gegen Argumentationsmuster, die sich mit Bezug auf die Besonderheit asiatischer Werte gegen das „westliche“ Verständnis von Menschenrechten und Demokratie abgrenzen, als auch gegen die Bedrohungsszenarien eines Samuel Huntington vom Kampf der Kulturen.
Sen argumentiert nicht nur konsequent gegen Positionen, die in den - wie es in der früheren entwicklungstheoretischen Diskussion gern hieß - Entwicklungsdiktaturen diejenigen politischen Systeme sehen, die am effektivsten in der Lage sind, Entwicklung im Sinne von Wachstum und Modernisierung zu erreichen. Sen argumentiert grundsätzlicher auch gegen ein ökonomisches Menschenbild, welches Lebensqualität und menschliches Wohlergehen vor allem auf ökonomische Kategorien, auf Wachstum und Wohlstand, reduziert. Banal formuliert: Geld allein macht nicht glücklich. Nach dem Verständnis von Sen geht Rationalität über Nutzenmaximierung hinaus. Rationales Handeln kann sich ebenso von moralischen Maßstäben leiten lassen.
Für Sen als Liberalen in dem Sinne, dass er leidenschaftlich für Freiheit und Demokratie eintritt, besteht das Ziel staatlicher Einflussnahme letztendlich darin, die Bedingungen zu schaffen, die dem Individuum ermöglichen, die eigenen Lebensentwürfe zu verwirklichen. Die Bekämpfung von Armut besteht für ihn also nicht darin, dass alle Güter gleichmäßig verteilt sein sollten, sondern vielmehr darin, dass Gleichheit der Chancen hergestellt wird, ähnlich wie wir es auch von der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft her kennen. Dabei impliziert die Befähigung zur Entfaltung der Persönlichkeit immer auch eine Wahlfreiheit, eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, wie die eigene capability genutzt wird. Sein neuestes Buch von 1999, das auf sechs verschiedenen, in der Weltbank gehaltenen Vorträgen basiert, trägt einen Titel, der die Quintessenz seiner entwicklungstheoretisch relevanten Überlegungen aus mehreren Jahrzehnten darstellt: „Development as Freedom“.
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