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Brasilien: Die Liste wird immer länger...
In Antwort auf:http://www.rbi-aktuell.de/Politik/170220...7022005-02.html
Brasilien: Die Liste wird immer länger...Aktivistin für die Rechte der Landarbeiter ermordet
Von Elmar Getto
Da war Chico Mendez, der einzige Fall, der außerhalb Brasiliens Aufsehen erregte, und davor und danach viele, viele Andere. Die brasilianischen Großgrundbesitzer waten in Strömen von Blut der von ihnen und in ihrem Auftrag Ermordeten. Der letzte Fall ist der einer brasilianischen 73-jährigen Nonne US-amerikanischer Herkunft, Dorothy Stang, die am 15. Februar 05 begraben wurde. Während dieser Artikel geschrieben wurde, kam bereits die nächste Mord-Meldung: Der Verfechter der Bauernrechte Soares da Costa Filho wurde am Dienstag – ebenfalls im Bundestaat Pará – ermordet aufgefunden.
Der gesamte Norden, Nordosten und Zentrale Westen Brasiliens, das sind zwei Drittel des Territoriums, sind weiterhin fest in den Händen der Großgrundbesitzer, zu denen heute auch noch eine Reihe reicher Landspekulanten gestoßen sind. Sie herrschen dort seit den Zeiten der portugiesischen Kolonialherrschaft. Sie werden meistens ‚Colonel’ (Oberst) genannt, wie jeder weiß, der etwas vom brasilianischen kommunistischen Schriftsteller Jorge Amado gelesen hat, der auch in Deutschland gut bekannt ist. Seit es ‚demokratische Wahlen’ in Brasilien gibt, hat sich daran nur soweit etwas geändert, als nun jeweils ein Mitglied der lokalen Herrscherfamilie gewählt wird.
Die Methoden dieser ‚kleinen Könige’ haben sich ebenfalls nicht viel geändert seit jenen Zeiten. Einer der Söhne wird Bundestagsabgeordneter, ein anderer Landtagsabgeordneter oder Bürgermeister, der dritte wird der lokale Richter und ein guter Freund der Familie leitet das Grundbuchamt. Will man ein bestimmtes Stück Land, so wird es ganz offiziell mit Richterspruch und Eintragung ins Grundbuch dem neuen Eigentümer übereignet. Falls der bisherige Besitzer es nicht freiwillig aufgibt, kommt man mit der Polizei (rein zufällig ist der örtliche Polizeikommandeur auch ein guter Freund der Familie). Diese Praxis ist so weit verbreitet, daß man schon ein eigenes Wort für diese Leute in Brasilien hat: Grileiros.
Auf diese Weise (und mit anderen Mitteln) haben die brasilianischen Großgrundbesitzer und Landspekulanten seit dem Militärputsch im Jahre 1964 in etwa 30 bis 35 Millionen kleine Bauern und Landarbeiter von ihrem Land und aus diesen Regionen vertrieben, die fast alle in die großen Städte, speziell jene im Südwesten Brasiliens, wie São Paulo und Rio de Janeiro, strömten, wo sie und ihre Nachkommen heute den wesentlicher Teil der Bewohner der Favelas (Slums) stellen.
Sarkasmus ein –
Nun gibt es aber eine Anzahl Unverbesserliche, die den natürlichen Ablauf der Dinge einfach nicht hinnehmen wollen und sich gegen diese gottgegebenen Vorgänge stellen. Sie versuchen, den kleinen Landbesitzern beizustehen und die Rechte der Landarbeiter zu verteidigen, sie gründen Cooperativen, sie dringen auf nachhaltigen Landbau und nachhaltige Extraktionswirtschaft, sie geben Rechtsschutz und holen auch schon einmal einen besserwisserischen Anwalt aus der Landeshauptstadt. Sie führen Proteste durch und bewaffnen sich auch schon mal, wenn sie bedroht werden. Sie wagen es sogar, Anklagen zu erheben gegen Militärs, Polizisten, Richter, Grundbuch-Verwalter und andere Leute, die nur ihre Pflicht tun. So fördern sie wissentlich die Gewalt auf dem Lande. Kurz, es sind dreckige Kommunisten und Terroristen, die ihren Tod absolut verdient haben.
Sarkasmus aus –
Besonders tun sich hervor bei der Verteidigung der Rechte der Landarbeiter und Kleinbauern die katholische Kirche Brasiliens mit ihrer Organisation ‚Pastoral da Terra’ (‚Hirten der Erde’) und die MST, die organisierte Bewegung der Landlosen. Sie und speziell die Funktionäre dieser Organisationen sind daher auch das ‚beliebteste’ Ziel der Morde, meistens im Auftrag der Großgrundbesitzer, oft legen diese aber auch selber Hand an.
Die katholische Kirche in Brasilien ist sehr unterschiedlich von dem, was man in Deutschland unter diesem Namen kennt. Dort wird nicht mit faschistischen oder militärdiktatorischen Herrschern eng zusammengearbeitet, dort ist man nicht das äußerst rechte Anhängsel der konservativen Parteien, dort wird „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und „Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, hast du mir getan“ noch weithin ernst genommen, kurz, die beiden Organisationen scheinen nicht im mindesten dem gleichen römischen Großkonzern anzugehören.
Neben dem ‚Pastoral da Terra’, einem ständigen Stein des Anstoßes für brasilianische Regierungen seit den Zeiten der Militärdiktatur und des Bischofs Dom Helder Câmara, gibt es auch noch den ‚Pastoral da Criança’ (‚Hirten der Kinder’), der ebenfalls keine Angst hat, der Regierung die Wahrheit zu sagen (was Regierungen dort wie woanders nicht so gerne haben).
Die ermordete Nonne lebte seit 37 Jahren in Brasilien, zuletzt bei einem kleinen Ort im Amazonasgebiet, Anapu. Als Antwort auf den Überfall der US-Regierung auf den Irak gab sie ihre US-Staatsbürgerschaft ab und wurde Brasilianerin. Sie arbeitete in Umweltschutz-, Bürger-, Friedens- und Frauenbewegungen mit.
Im Gebiet von Anapu werden, wie es die brasilianische Verfassung vorschreibt, Pazellen brachliegender Gebiete ohne Regenwald an registrierte Landlose übergeben. Ebenso werden Regenwaldgebiete abgesperrt, um dort ein nachhaltige Extraktionswirtschaft zu betreiben. Die örtlichen Großgrundbesitzer wehren sich dagegen, lassen die Häuser der Kolonnen und deren Felder anzünden und bedrohen (und ermorden) die Personen, die diesen Schutz und Beistand gewähren.
Schwester Dorothy prangerte unentwegt die Untaten der Großgrundbesitzer, Grundspekulanten und ihrer Helfer an, aber auch die Ausbeutung der Edelhölzer aus dem Regenwald. So zog sie sich den Haß nicht nur der Großgrundbesitzer, sondern auch der Holzhändler zu. Sie war die Leiterin der örtlichen ‚Pastoral da Terra’.
Seit 2001 die Drohungen immer mehr zunahmen, hat Schwester Dorothy unermüdlich die örtlichen, regionalen und Bundes-Behörden hierauf aufmerksam gemacht und um Eingreifen und Unterstützung gebeten.
Im Februar 2004 kam der nationale Beauftragte für Umweltfragen, Jean Pierre, nach Anapu, um sich ein Bild über die Situation zu machen. Kurz danach tagte in der Nähe eine parlamentarische Untersuchungskommission des Bundestages zu Landfragen, doch nichts wurde in der Realität getan.
In Anerkennung ihres Einsatzes für die Kleinbauern und Landlosen verlieh das Landesparlament des Bundesstaates Pará im Juni 2004 Schwester Dorothy die Ehrenbürgerschaft von Pará.
Eine Delegation der Vereinten Nationen besuchte im Oktober 2004 die Landeshauptstadt Belém, um die Unabhängigkeit des Justizsystems zu untersuchen. Als Betroffene von Bedrohungen wurde auch Dorothy angehört. Wiederum geschah nichts konkretes.
Für ihre Verdienste um die Menschenrechte ehrte sie die Rechtsanwaltskammer von Pará (OAB-PA) im Dezember 2004 mit dem „José Carlos Castro Preis”.
Am 2. Februar 2005 hat sie ihre Anklagen bei einer öffentlichen Audienz in Rondon dem Minister für Menschenrechte, Nilmário Miranda, vorgetragen.
Als der Oberste Bundes-Staatsanwalt am 03. Februar 2004 in Belém das ‚Nationale Programm zum Schutz der Menschenrechtsaktivisten’ präsentierte, war Dorothy da und verwies auf die zunehmende Gewalt. Wiederum blieb alles bei Worten ohne Taten.
Weder örtliche oder Landes- noch Bundesbehörden wurden in irgendeiner konkreten Weise gegen die allseits bekannten Großgrundbesitzer und Grundspekulanten der Region und die namentlich bekannten Holzhändler tätig. Die Regierung Lula, die jetzt den Tod der Schwester beklagt, ist dafür mit verantwortlich.
Die Regierung Lula ist auf die Abgeordneten aus den Regionen des Großgrundbesitzes angewiesen, um ihre „Reformen“ (Sozialabbau) durchsetzten zu können. Eben diese Abgeordneten sind aber zum großen Teil identisch mit den Familien eben dieser Großgrundbesitzer oder mit ihnen engstens verbunden. Das Ergebnis ist, daß in bester sozialdemokratischer Tradition hoch ehrenhafte Absichtserklärungen abgegeben werden, um damit die absolute Untätigkeit in der Praxis in diesen Fragen der Menschenrechte und des Umweltschutzes zu kaschieren. Das beste Beispiel ist der schon genannte Festakt zur Präsentation des ‚Programmes zum Schutze der Menschenrechtsaktivisten’ wenige Tage vor der Ermordung von Schwester Dorothy.
Im brasilianischen Bundesland Pará ist das gesamte öffentliche Leben beherrscht von den Großgrundbesitzern und Geschäftemachern. Kein Polizist, kein Staatsanwalt, kein Polizei-Kommandeur, kein Richter oder sonstiger Würdenträger kann es wagen, irgend etwas gegen die Herrscher der Region zu unternehmen, will man nicht Opfer härtester Racheakte werden. Deutlich wurde dies bereits bei den Prozessen gegen die Polizisten und Polizei-Kommandeure, die beim „Massaker von Carajás“ im gleichen Bundesland 19 Mitglieder der Landlosenbewegung abgeschlachtet hatten. Alle wurden in einem Schein-Prozeß freigesprochen. Erst auf Intervention der Bundesbehörden wurde der Prozeß neu aufgerollt.
Charakteristisch für das Klima, unter dem die Menschen dort leben müssen, sind zwei Ereignisse in unmittelbarem Zusammenhang mit Dorothys Ermordung:
- Die zuständige Polizei-Behörde von Belém hat einen Tag nach ihrer Ermordung, anstatt die Täter zu verfolgen und zu stellen, einen der engsten Mitarbeiter von Schwester Dorothy absurderweise wegen Beteiligung an dem Mord an einem Landarbeiter angeklagt.
- Kurz nach ihrer Ermordung wurde in der Kleinstadt Anapu (auf deren Gebiet der Mord geschah) in aller Öffentlichkeit ein Freudenfeuerwerk von den Hintermännern des Mordes abgebrannt.
Dies alles zeigt, wie die Täter und ihre Hintermänner sich sicher fühlen, genauso wie die Tatsache, daß sie schon den nächsten Mord begingen, bevor Schwester Dorothy noch beigesetzt war. Die Regierung Lula steht dem untätig gegenüber.
In Brasilien gibt es im Moment 0 (in Worten Null) Großgrundbesitzer im Gefängnis wegen eines Mordes oder Anstiftung zum Mord. Der Auftraggeber des Mordes an Chico Mendez wurde zwar verurteilt (und dies auch nur wegen des Aufsehens, den der Fall im Ausland geweckt hatte), verschwand aber nach wenigen Monaten unerklärlicherweise spurlos aus dem Gefängnis und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Das heißt alle (in Worten: alle) diese Gewalttaten bleiben ungesühnt. Lediglich die armen Schweine, die sich als Mörder verdingen, kommen manchmal ins Gefängnis. In Brasilien kann man einen Mord für 5000 Reais haben (ca. 1500 Euro).
Des gleichen Geistes Kind scheinen die Verfasser von Medienveröffentlichungen in Brasilien, aber auch in Deutschland (wie z.B. im ‚Tropenwaldnetzwerk Brasilien’) zu sein, die Schwester Dorothy als ‚Missionarin’ bezeichnen. In Brasilien kann man ein Lied über ‚Missionare’ singen, speziell die Ureinwohner Brasiliens, die heute weitgehend ausgerottet sind. Missionare der verschiedensten Religionen waren immer Mitverantwortliche an diesen Ausrottungen. Sowohl durch das Absegnen von Massakern und Versklavungen, als auch durch das Einschleppen von für die Indios tödlichen Krankheiten oder durch die Entfremdung von ihren Wurzeln und den oft lebenswichtigen Naturheilkenntnissen der Medizinmänner, alle diese Gründe der Ausrottung stehen nicht zuletzt im Zusammenhang mit Missionaren. Nicht ohne Grund ist darum in Brasilien ‚missionieren’ bei Strafe verboten.
In diesem Sinne war Schwester Dorothy keine Missionarin, sie hat ihre Solidarität nie abhängig vom Glauben der Betroffenen gemacht.
Durch Zufall wurde gerade am Tag vor der Beisetzung von Schwester Dorothy im brasilianischen Bundestag gezeigt, wie die Regierung Lula abhängig von Abgeordneten aus den Regionen der Großgrundbesitzer ist. Der Bundestag trat nach der Sommerpause zum ersten Mal wieder zusammen und hatte als erstes einen neuen Bundestagspräsidenten zu wählen. Dieses Amt steht traditionsgemäß einem Vertreter der Koalition zu, auf die der Präsident sich stützt. Aber Traditionen sind keine Muß-Bestimmung. Zwei Parteien waren aus der Lula-Koalition ausgestiegen (PMDB und PPS) und sie hatte keine formale Mehrheit mehr.
Trotzdem galt der Kandidat Lulas als praktisch schon fast gewählt. Plötzlich trat aber ein Abgeordneter, ohne überhaupt von einer Partei vorgeschlagen worden zu sein, als Gegenkandidat auf und warb um Stimmen mit dem Versprechen, er werde sich als Bundestagspräsident für eine Erhöhung der Diäten einsetzen. Und siehe da – er gewann im zweiten Wahlgang gegen den Lula-Kandidaten mit einer komfortablen Mehrheit. Der neue brasilianische Bundestagspräsident, ein gewisser Cavalcanti, ist der Vertreter der am meisten rechts stehenden Partei im Bundestag und – wer hätte es gedacht - genau eines jener Mitglieder einer der herrschenden Familien im Bundesstaat Pernambuco, Nordosten Brasiliens – und Großgrundbesitzer. Charakteristisch auch für die ganze Besetzung des Bundestags, mit welchem Argument man dort Präsident werden kann.
Jetzt wird die Regierung verstärkt Schwierigkeiten haben, noch Gesetze durch das Parlament zu bringen. Man weiß nicht, ob man das nicht sogar begrüßen sollte.
Moskito
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