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Wahrheit und Bewegung
Arnold Schölzel/Gerd Schumann (Havanna)
Wahrheit und Bewegung
Zusammenschlüsse gegen das US-Imperium: Zum Ende der Rekord-Buchmesse von Havanna wurde Venezuela als Gastland 2006 eingeladen
Die 14. Internationale Buchmesse in Havanna hat ihre Pforten geschlossen: Mag es für eine gründliche Bilanz der elf Tage auf der einst größten Festung spanischer Kolonialherrschaft in Lateinamerika auch noch zu früh sein, so läßt sich deren beeindruckender Verlauf doch an zwei für herkömmliche Messen extraordinären Eindrücken messen. Zum einen stach die hochkarätige Besetzung eines ganztägigen, in acht Sälen und auf zwei Bühnen dargebotenen Diskussions- und Unterhaltungsprogramms rund um das neu in Kuba erschienene Buch hervor. Von den Veranstaltungen und Begegnungen könnten bedeutende Impulse zuvorderst für den lateinamerikanischen Diskurs gegen das nordamerikanische, von Washington aus regierte Imperium ausgehen. Mehr als nur Begleitmusik zu diesem politischen Standard war die Entscheidung des Buchmessenkomitees, im nächsten Jahr Venezuela als Gastland für die »Feria Internacional del Libro« einzuladen: Als der venezolanische Kulturminister Francisco Secco am Freitag mit viel Beifall empfangen wurde, wirkte dies wie ein demonstrativer Paukenschlag für eine weitere Verstärkung der von Fidel Castro und Hugo Chávez im Januar vorgestellten »Bolivarianische Alternative für Amerika« (ALBA).
Massenmagnet
Zum anderen hatte die »Feria« bereits nach einer Woche die Halbe-Million-Besucher-Grenze der Vorjahres überschritten – ein Massenmagnet. Hunderttausende stürmten das Fort jeweils ab morgens um zehn und machten die »Feria« zum Volksfest. Eine Million Bücher waren am Samstag verkauft, Umsätze von knapp sechs Millionen kubanischen Pesos gemacht. Am Sonntag wurde der 600 000. Besucher empfangen. Der Eintritt kostete zwei Pesos, so wenig wie eine Kinokarte. Kinder unter zwölf erhielten gratis Zugang zur »Cabana«, dem steinernen Festungsmonstrum aus dem 18. Jahrhundert hoch über der Hafenbucht von Havanna. Das Wissen darum, daß Kuba vor nicht allzulanger Zeit die schwerste Krise seiner Geschichte als freies Land durchmachte, verschwand im unangestrengten Trubel um das geistige Nahrungsmittel Buch.
Und doch gehört Kuba zur Dritten Welt, gilt dort als Leuchtturm sozialer Sicherheit und kultureller Errungenschaften. Und als deren Hoffnungsträger. Folglich nutzten Dutzende Literaten und Politiker die Buchmesse zu Beratungen. Die 2003 in Mexiko per Manifest ins Leben gerufene und in Madrid sowie Caracas 2004 weiterentwickelte Intellektuellenbewegung erstarke mit der Vernetzung, so der Tenor einer von Kubas Kulturminister Abel Prieto moderierten Veranstaltung zum Thema am Freitag, auf der prominente Teilnehmer Statements abgaben. Der Brasilianer Thiago de Mello sprach vom Traum einer waffenfreien Welt und davon, daß der Hunger weltweit verschwinde. In Kuba, so Mello, sei diese Utopie Wirklichkeit geworden. »Die Bewegung hat einen großen Vorteil«, meinte die spanische Literatin Belén Gopegui: Sie vertrete die Wahrheit. Allerdings falle es immer wieder schwer, Formen zu finden, um diese zu verbreiten. Ein Zustand, den auch Ernesto Cardenal beklagte. Neun transnationale Medienkonzerne verfügten über 90 Prozent der Weltinformation und würden diese entsprechend ihrer Interessen verschweigen oder veröffentlichen.
Tausende Sprachen
Die Idee eines eigenen Fernsehsenders, der »die Identität Lateinamerikas widerspiegelt« (Miguel Bonazo) stand im Zentrum der Diskussion mit unter anderen James Cockroft, Le Monde diplomatique-Chefredakteur Ignacio Ramonet und der baskischen Verlegerin Eva Forest. In Argentinien, Brasilien und Venezuela sei man dabei, einen »Canal de Sur« zu schaffen, eine Art Gegen-CNN oder, wie es der kubanische Sänger und Dichter Vicente Feliú formulierte, ein »CNN der Armen«. Lateinamerikas intellektuelles Potential sei in der Lage, das »Haus der Wahrheit mit Möbeln auszustatten«. ATTAC-Gründer Bernard Cassens verwies im jW-Gespräch darauf, daß die Verteidigung der Tausenden von Sprachen weltweit zum Bestandteil der Verteidigung der kulturellen Vielfalt gegen die Omnipräsenz des Englischen werden müsse. Sprache sei mehr als Mittel zur Kommunikation. Wie der Dollar sei das amerikanische Englisch die Sonne, um die Sprachen wie Planeten kreisten, die ihrerseits wiederum von Monden umgeben seien. Wer gegen die politische Hegemonie einer einzigen Macht sei, müsse auch gegen die kulturelle Vorherrschaft einer einzigen Sprache kämpfen. Indes unterstrich der Kubaner Armando Hart die Notwendigkeit einer Koordinierung der intellektuellen Bemühungen zur Verteidigung der Menschheit, auch wenn die Angst vor einer Bürokratisierung mit Blick auf die Vergangenheit noch so verständlich sei.
Union o muerte
Die Idee des Zusammenschlusses Iberoamerikas beherrschte manche Debatte. So erklärte der brasilianische Autor Theotonio Dos Santos am Samstag, nach seiner Auffassung gehe es heute um die Bildung einer ähnlichen Front wie sie zur Niederkämpfung des deutschen Faschismus im Zweiten Weltkrieg gebildet wurde. Der Menschheit drohe eine ähnliche Gefahr. Dos Santos meinte, der Niedergang des Neoliberalismus habe bereits begonnen. Es sei erwiesen, daß die neoliberale Doktrin nirgends praktiziert werden könne. In der Welt der transnationalen Konzerne, der Monopole, habe auch der Staat enormen Einfluß gewonnen. Kapital könne ohne massive staatliche Unterstützung nicht mehr existieren, und umgekehrt sei der Staat in noch nicht dagewesener Weise den Interessen des Großkapitals untergeordnet. Dieses System sei nicht mehr von unten zu stürzen.
Nicht erst mit der Entscheidung für Venezuela als Brasilien nachfolgendes »Gastland« hatte die dortige Entwicklung spürbaren Einfluß auf die Diskussionen. Wo es um Bücher zur Entwicklung des Landes ging, war der Publikumsandrang enorm, wie am Donnerstag, als Heinz Dieterich (Mexiko) einen Band vorstellte, der seine Gespräche mit Hugo Chávez enthält. Prieto verwies darauf, daß Kuba und Venezuela das Motto der globalisierungskritischen Bewegung in die Tat umzusetzen versuchen. Daß eine andere Welt möglich sei, besage auch die jüngste gemeinsame Erklärung von Fidel Castro und Chávez, die den Zusammenschluß der Länder Lateinamerikas gegen die von den USA dominierte Freihandelszone ALCA auf den Weg brachte. Venezolanische Teilnehmer vertraten in der Debatte die Auffassung, die Kooperation zwischen Kuba und Venezuela sollte auch auf militärische Bereiche ausgedehnt werden. Dieterich ergänzte dies mit der Formel »Union o muerte« (Vereinigung oder Tod). Aus seiner Sicht gibt es in Südamerika derzeit die Chance für einen »grundlegenden Umschwung«, für einen qualitativen Sprung durch den Zusammenschluß auf staatlicher Ebene, der auch die Massen ergreifen könne und durch die Kooperation fortschrittlicher Intellektueller gefördert werde. Die gemeinsame Erklärung der Staatspräsidenten Kubas und Venezuelas bezeichnete Dieterich als »historisches Dokument«, als Deklaration einer »großen Strategie«.
Howard Zinn schließlich, der US-amerikanische Dramatiker und Historiker »von unten« – er stellte in Havanna die kubanische Ausgabe seiner »anderen Geschichte der Vereinigten Staaten« vor –, wandte sich entschieden wie manch anderer gegen den »Krieg gegen den Terror«. Zinn: »Einzig die Völker Afghanistans und Iraks sind dessen Opfer.« Dabei stelle die Politik der USA nichts grundsätzlich Neues dar. Schon 1898 hätten sie Kuba vom spanischen Kolonialismus lediglich deswegen befreit, um ihre Unternehmen und Armee auf der Insel zu installieren. So sei es heute im Irak. Saddams Herrschaft sei beseitigt, doch US-Armee und -Unternehmen weiter im Land. Freiheit und Demokratie für das Volk habe das nicht gebracht.
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