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Vergiss mein nicht!
MENSCHEN 2004
Vergiss mein nicht!
Wer wurde hochgeschrieben, wer stürzte wieder ab? Der RM lässt das Medienjahr Revue passieren und sucht nach tragikomischen Helden.
Autor: RAOUL LÖBBERT
Boarding completed! Wir, die Crew, begrüßen Sie an Bord. Sie, die
Passagiere, tragen Ihr vergangenes Jahr im Handgepäck mit sich, haben
es in den dafür vorgesehenen Ablagen verstaut. Der Sicherheitsgurt ist
festgezurrt. Erschrecken Sie beim Abheben nicht ob des Luftdrucks in
Ihren Ohren. Ready for take-off! Start.
2004 lassen wir zurück. Vor uns liegt Neujahr, die Datumsgrenze.
Spielend überfliegen wir Kontinente. Folgen Sie der roten Linie auf
der Weltkarte Ihres Kabinenmonitors. Sie kreuzt Jahreszeiten,
Zeitzonen, Zeiten. Sehen Sie aus den Fenstern. Was auf der Erde
unüberschaubar erscheint, ist von hier oben betrachtet winzig. Das
Geraune, das Getuschel, das Geraschel der Gazetten dröhnt einem am
Boden in den Ohren, bis man es nicht mehr hören kann, bis das Rascheln
schneller verklungen ist als das Dröhnen selbst. In der Höhe vernimmt
man nichts davon. Wir beobachten das Skandalensemble, die
Mediengestalten, die Hochgeschriebenen, die allzu schnell Vergessenen.
Ameisen schauen wir beim Herumwuseln zu.
Die Ader da unten ist die Elbe. Das steinerne Herz, an der Ader
gelegen, heißt Hamburg. Oberster Dienstherr des Hamburger Staatsorgans
war Ronald Barnabas Schill. Jetzt steht er, der Ex-Innensenator,
Ex-Richter Gnadenlos, das Ex-Mitglied seiner Schill-Partei, als
Ameisensoldat vor der Miniatur des Delta Bistro und winkt. Nicht uns,
seiner Königin: Corinna Jürgens, Frau von Schlager-Casanova Udo
Jürgens. Die beiden sind nur gute Freunde. Oder ein Liebespaar, oder
beides oder auch nichts von beidem. Eng umschlingen sie sich auf den
Titelblättern der Klatschpresse. Udo wittert Ehebruch und dann auch
noch mit Ronald Barnabas! Wenn es wenigstens Joschka Fischer wäre!
Corinna dementiert.
Im Delta Bistro wird Abschied gefeiert. Ob man griechischen Wein
trinkt? Ronald Barnabas will weg nach Südamerika, Chile vielleicht,
Kuba am liebsten, jedenfalls für immer. Es wird Kuba, Paradies aller
Gnadenlos-Richter. Ein wenig Pathos, eine Spur Wehmut: Ich wünsche
meiner Heimatstadt alles Gute. Das Rückflugticket will Ronald Barnabas
verfallen lassen. Ein letztes Winken, bevor er ins Flugzeug steigt. Es
gilt den, dank ihm, blau eingekleideten Hamburger Polizisten, dem
aufatmendenden Oberbürgermeister, der Schill-Partei ohne Schill, Udo
Jürgens' Corinna und uns, die wir wissen, dass wir Ronald Barnabas
wiedersehen werden.
Castro am Boden
Er wird rechtzeitig sein Ziel erreichen und, angekommen, den Sturz von
Kubas Fidel Castro mitansehen. Nicht ein Ränkespiel seiner Kamarilla
wurde dem Methusalem-Revolutionär zum Verhängnis, sondern eine
Treppenstufe. Über den vor Fernsehkameras stürzenden, sich den Arm
brechenden, die Kniescheibe zerschlagenden Fidel lacht die Welt. Doch
der erholt sich schnell. Vielleicht dank der Anteilnahme der
scheidenden EU-Verkehrskommissarin Loyola de Palacio: Wir alle hoffen,
dass er so bald wie möglich stirbt. Und ich hoffe, es noch zu erleben.
Loyola muss sich in Geduld üben. Ein kubanischer Gerontologe
bescheinigt prompt dem 78-Jährigen, dass er ein Alter weit jenseits
der 100 erreichen werde. Und tatsächlich empfängt ein recht fideler
Fidel, wenn auch im Rollstuhl sitzend, wenig später Chinas Präsidenten
Hu Jintao zum sozialistischen Bruderkuss, das Abkommen über die
Zusammenarbeit im Erziehungs- und Gesundheitswesen unterschriftsreif
in der Uniformtasche.
Hoppla! Kein Grund zur Sorge, nur ein paar Turbulenzen, ein paar
Kubikmeter luftleeren Raums, die unsere Maschine kurzseitig absacken
ließen. Seien Sie beruhigt, so groß ist die Anziehungskraft des Ozeans
da unten nicht. Ist es nicht schön, dieses blaue Tischtuch, das sich
bis zum Horizont erstreckt, gesprenkelt mit Krümeln, Nussschalen,
Booten, Schlauchbooten? In ihnen sitzen nicht etwa kubanische Boat
People, die von der US-Küstenwache unbeobachtet über das Karibische
Meer gen Florida schippern. Nein, in ihnen kauern Sudanesen,
Flüchtlinge. In einem kauert Benjamin Robat. Benjamin kommt aus dem
Sudan, obwohl er aus Nigeria stammt. Als Schlepper ihn und die anderen
Sudanesen an der Küste des libyschen Zuhara in das acht Meter lange
Schlauchboot setzen, bekommt er einen Kompass und zwei Ratschläge:
Fahrt nach Norden, immer geradeaus. Und: Sagt, dass ihr aus dem Sudan
kommt, sonst werdet ihr zurückgeschickt. Benjamin kommt nicht weit.
Die Cap Anamur, Flaggschiff der gleichnamigen deutschen
Hilfsorganisation, nimmt ihn und die 36 anderen Schlauchbootfahrer,
ausgezehrt, in Lebensgefahr schwebend, an Bord.
Retter braucht Rettung
Neues Ziel: Italien. Zielloses Kreuzen vor Siziliens Küste, weil kein
Hafen sie aufnehmen will. Dann gibt Elias Bierdel, Vorsitzender der
Hilfsorganisation und Käpten Ahab der Cap Anamur, auf eigene Faust
Order zum Einlaufen in den Hafen von Porto Empedocle. Die Sudanesen,
einschließlich Benjamin, stehen an der Reling Spalier. Elias steht in
Siegerpose den Fotografen und Journalisten Modell. Und Italiens
Gesetzeshüter stehen bereit, um ihn wegen illegaler Einschleusung von
Migranten festzunehmen, die Cap Anamur zu beschlagnahmen, die
Identität der Sudanesen zu überprüfen.
Armer Elias. Opfer seines weißen Wals, drangsaliert von gewissenlosen
Machthabern, die Menschen angeblich vor den Toren der Festung Europa
verrecken lassen. Armer Elias? Kritik wird laut auch von Cap
Anamur-Gründer Rupert Neudeck. Elias soll zu Publicityzwecken vor der
afrikanischen Küste wie die Spinne im Netz auf Schlauchboote am
Horizont gewartet, sie sogar angelockt haben.
Armer, kranker Rupert. Als Elias von den Vorwürfen hört,
diagnostiziert er bei ihm einen bizarren Fall von senilem Zynismus.
Elias wird freikommen, ein Ticket für die nächste Maschine nach
Deutschland buchen. Elias wird seine Arbeit wieder aufnehmen, Gras
wird darüber wachsen. Dann wird Elias abgewählt, drei Monate später
bei der Cap Anamur-Vereinssitzung. Grund: interne Probleme, die in der
Kommunikation lagen.
Und Benjamin? Er ist nun kein Sudanese mehr, sondern nur noch
Nigerianer. Dabei wäre er so gerne Italiener. Ehrenbürger von Venedig
hätten er und die anderen Schlauchbootfahrer werden können. Der
Bürgermeister schlug dies vor, um ihr Bleiben zu ermöglichen.
Vergebens. Benjamin braucht seinen Kompass nicht, als ihn die
italienischen Behörden in das Flugzeug nach Lagos setzen. Abgeschoben
in seine Heimat, weiß er nun, wo Norden ist.
Wir orientieren uns an der im Osten aufgehenden Sonne und halten
darauf zu. Ein Inselchen, Sri Lanka, Tropfen unter dem indischen
Stalaktiten. Wir beobachten Spitzensportler beim Packen ihrer Koffer,
sehen Nationaltrikots, Turnschuhe, Handbälle darin verschwinden.
Familien werden vor dem Check-in umarmt. Dann geben die 23 besten
Handballer des Tropfens ihr Gepäck auf, um sich mit den
Feierabendspielern des Dörfchens Wittislingen auf der Schwäbischen Alb
zu messen. Die Wittislinger sind stolz auf ihr internationales
Turnier. Wann hat man schon mal eine Nationalmannschaft zu Gast?
Das Duell zwischen Sri Lanka und dem TSV wird zum grandiosen Sieg für
die bayerische Provinz. Grandios? Der Gegner erweist sich als
satisfaktionsunwürdig. Kaum einen Ball kann des Tropfens
Handballspitze fangen, dem morgendlichen Training im Wittislinger
Forst zum Trotz. Und dann, nach dem sportlichen Fiasko, sind sie weg,
verschwunden. Nur ihre Trikots und eine schmunzelnde Reporterriege
ließen die Nationalspieler zurück. Verlaufen im Wald haben sie sich,
wie anfangs vermutet, nicht. Ein letzter Gruß, gekritzelt auf einen
Schulblock: Danke, es war nett. Jetzt fahren wir nach Frankreich.
Schily, Chili, Schill
Frankreich? Ich bin in Italien, informiert ein Sri-Lanker seine
Angehörigen, und habe ab nächster Woche schon einen Job. Nein, eine
Vertragsverpflichtung bei einem italienischen Handball-Erstligisten
ist wohl nicht gemeint. Handballerisch ist Sri Lanka die letzte aller
möglichen Welten. Es gibt zwar einen Bodybuilding-, jedoch keinen
Handball-Sportverband. Und die Botschaft beteuert, nichts von einem
offiziellen Besuch der Nationalmannschaft, von einer
Nationalmannschaft überhaupt zu wissen. Peinlich für die
Verantwortlichen vom Asian German Sports Exchange (Agsep), die das
internationale Turnier vermittelten und den Sri-Lankern das Mutterland
des Handballs zeigen wollten.
Darf es etwas für Sie sein? Wasser, O-Saft oder Kaffee vielleicht?
Unsere Stewardessen kümmern sich darum. Kaffee also! Mit Sahne? Reißen
Sie das Plastikdöschen mit der Kondensmilch auf. Der erste
cremig-weiße Tropfen, der in das schwarze Meer ihres Pappbechers
plumpst, zieht Kreise. Der letzte bringt so manches Fass zum
überlaufen.
Sri Lankas Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen die Angehörigen,
weil jene die Flucht unterstützt haben sollen. Deutsche Behörden
prüfen, ob sie gegen Mitarbeiter ihrer Botschaft in Colombo wegen
Korruption vorgehen müssen. Die Opposition hat Innenminister Otto
Schily (SPD) im Innenausschuss ergebnisoffen zur Praxis der
Visa-Vergabe an deutschen Botschaften befragt. Letzter, allerletzter
Tropfen für die CDU/CSU-Fraktion unerschütterlich glaubt sie an die
Notwendigkeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dabei
hatte sich Schily nach der Schlauchboot-Bierdel-Kompass-Affäre mit dem
Vorschlag, Asyllager in Nordafrika einzurichten, in zahlreichen
Interviews als Streiter wider die illegale Massenflucht, als Minister
Kompromisslos hervorgetan.
Schily, Chili, Chile, Schill für immer wollte Richter Gnadenlos in
Südamerika, in Chile vielleicht, in Kuba am liebsten, bleiben. Sei es,
dass die Schärfe der karibischen Küche ihm nicht zusagte, sei es, dass
ihm in Fidels Kuba bei dem Überangebot an Gnadenlos-Richtern die
Arbeitslosigkeit drohte. Nun jedenfalls steht Ronald Barnabas, das
gepackte Köfferchen Gewehr bei Fuß, vor dem Flughafengebäude in
Havanna und winkt. Sein Adios gilt dem gesundenden Fidel, dem Tiefblau
der gesprenkelten Karibik und uns, die wir nicht überrascht sind, ihn
wiederzusehen. Sein Für-immer dauerte drei Wochen. Jenseits der Wolken
zieht die rote Linie auf der Weltkarte seines Kabinenmonitors weit
nördlich vom Sudan, nördlich von möglichen Asyllagern in Nordafrika,
weit weniger nördlich von Porto Empedocle hin zum steinernen Herz an
der Ader Elbe. Gilt sein Winken aus dem Fenster schauend, am
Milchkaffee im Pappbecher nippend den Ameisen da unten in
Wittislingen? Gilt es seiner Königin vor der Miniatur des Delta
Bistro?
Wir werden Ronald Barnabas wiedersehen, nächstes Jahr - garantiert.
Doch jetzt schauen wir aus unseren Fenstern auf den tiefschwarzen
Vorhang der Nacht. Hier und da blinken wie Glühwürmchen, wie weit
entfernt explodierendes Feuerwerk die Positionslampen anderer
Flugzeuge. Bald dämmert der nächste Morgen, das nächste Jahr herauf.
Bald haben wir die Datumsgrenze überflogen, fahren das Fahrwerk zur
Landung aus. Stellen Sie die Sitzlehnen aufrecht, bringen Sie die
Sektkorken in Schussposition. Beehren Sie uns wieder! Es war uns ein
Fest.
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