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Erstmals regiert ein Linker Uruguay
Erstmals regiert ein Linker Uruguay
Montevideo – Uruguay hat einen historischen Machtwechsel vollzogen: Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein linksorientierter Präsident das südamerikanische Land regieren. Der Präsidentschaftskandidat des Wahlbündnisses Frente Amplio, Tabare Vazquez, gewann die Wahl am Sonntag mit 50,18 Prozent, wie die Wahlkommission nach Auszählung von mehr als 96 Prozent der Stimmen mitteilte. Mit knapp 35 Prozent landete der Kandidat der liberalen Blanco-Partei, Jorge Larranaga auf Platz zwei.
Der neue Präsident wird es nicht leicht haben. Zwar zählt Uruguay in Lateinamerika noch immer zu den Ländern mit der gerechtesten Einkommensverteilung und der geringsten Korruption. Eine fünfjährige Rezession und die Finanzkrise von 2002 haben den Bankensektor der einstigen „Schweiz Südamerikas“ jedoch praktisch vernichtet und fast eine Million Menschen (ein Drittel der Bevölkerung) in Armut gestürzt. Ihnen hat Vazquez ein Soforthilfeprogramm versprochen, das eine medizinische Grundversorgung, Nahrungsmittelhilfe und Bildungsprogramme umfasst. Ein heißes Eisen wird auch die Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur (1973-1985) sein.
Mit dem Sieg der Frente Amplio konsolidiert sich die Achse der linken Regierungen in Lateinamerika, die von Kuba über Venezuela bis nach Chile, Argentinien, Brasilien und nun Uruguay reicht. Gemeinsam sind diesen Regierungen ein bisweilen antiamerikanischer Nationalismus, die staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft und eine kritische Haltung gegenüber der Freihandelspolitik der USA. Auch Vazquez will sich im Gegensatz zu seinem US-orientierten Vorgänger stärker um den Ausbau des Gemeinsamen Südamerikanischen Marktes (Mercosur) kümmern. Dieser sollte seiner Ansicht nach auch eine politische Integration vorantreiben. Sandra Weiß
#2 RE:Erstmals regiert ein Linker Uruguay
«Ich werde euch nicht enttäuschen»
Uruguay Linkskandidat Vazquez wird neuer Präsident – Resultat missfällt den USA
Historischer Machtwechsel in Uruguay: Zum ersten Mal wird mit Tabare Vazquez ein linker Präsident das südamerikanische Land regieren.
Sandra Weiss, Montevideo
Gemäss Hochrechnungen siegte der Präsidentschaftskandidat des Linksbündnisses Frente Amplio, Tabare Vazquez, am Sonntag bereits in der ersten Runde mit 50 Prozent der Stimmen. Mit rund 30 Prozent landete der Kandidat der liberalen Blanco-Partei, Jorge Larranaga, abgeschlagen auf Platz zwei. In der Hauptstadt Montevideo feierten am Abend Zehntausende Anhänger mit den rot-blau-weissen Parteifahnen vor dem Hotel Präsident – der Wahlkampfzentrale von Vazquez’ Linksbündnis Frente Amplio (Breite Front). Es war der dritte Versuch des 64-jährigen Arztes, das Präsidentenamt zu erobern.
Kurz vor Mitternacht wandte sich Vazquez freudestrahlend an die ausgelassene Menge. «Ich werde euch nicht enttäuschen», versprach er. Ausserdem rief er zur Mässigung und Toleranz gegenüber den Unterlegenen auf. Vazquez hat nicht ausgeschlossen, die Opposition in die Regierung einzubinden, um seinen politischen Wandel auf eine breite Basis zu stellen. Diese Geste ist typisch für eine der stabilsten Demokratien Lateinamerikas. Nötig hätte Vazquez das nicht, da er im Parlament über eine absolute Mehrheit verfügen wird.
Die Uruguayer mögen an ihrem neuen Präsidenten, dass er kein Berufspolitiker ist. Und dass er den sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zum angesehenen Krebsarzt vorgelebt hat – eine Karriere, wie sie bis vor zehn Jahren in dem Land mit dem grössten Mittelschichtsanteil Lateinamerikas durchaus üblich war. In gleichem Masse, wie es in den vergangenen zehn Jahren mit dem Kleinod am Rio de la Plata jedoch wirtschaftlich abwärts ging und die Mittelschicht aufgerieben wurde, hat der Sozialist Zulauf bekommen. Von knapp 20 Prozent Mitte der 80er-Jahre nach Ende der Diktatur über 40 bei den vergangenen Wahlen bis hin zu 50 Prozent heute steigerte Frente Amplio ihr Ansehen in der Wählergunst.
Zwar zählt Uruguay in Lateinamerika noch immer zu den Ländern mit der geringsten Korruption. Dennoch wird es Vazquez nicht einfach haben. Eine fünfjährige Rezession und die Finanzkrise von 2002 haben den Bankensektor der einstigen «Schweiz Südamerikas» vernichtet und fast eine Million Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, in Armut gestürzt. Ihnen hat Vazquez ein Soforthilfeprogramm versprochen, das ärztliche Assistenz, Nahrungshilfe und bessere Bildung umfasst. Unklar ist jedoch, woher das Geld dafür kommen soll: Das Land ist mit mehr als 13 Milliarden Dollar im Ausland verschuldet. Das ist mehr, als der Agrarstaat im Jahr an Reichtum erwirtschaftet.
Der Frente Amplio gilt zwar als gemässigt, aber Washington dürfte das Resultat trotzdem missfallen. Denn damit konsolidiert sich die Achse der linken Regierungen in Lateinamerika, die von Kuba über Venezuela bis nach Chile, Argentinien, Brasilien und nun Uruguay reicht. Gemeinsam ist diesen Regierungen ein manchmal antiamerikanischer Nationalismus und eine kritische Haltung gegenüber der neoliberalen Freihandelsideologie der USA.
Historischer Sieg Der Krebsarzt Tabare Vazquez will den Armen mit einem Sofortprogramm helfen.
In Antwort auf:http://www.jungle-world.com/seiten/2004/45/4274.php
Der dritte MannSeit 174 Jahren bestimmen zwei Parteien die Politik Uruguays. Nach den Wahlen am Sonntag dürfte erstmals die Linke die Regierung übernehmen. von birgit marzinka
Die Abschlusskundgebung war beeindruckend: 600 000 Menschen, also etwa ein Viertel der Bevölkerung des Landes, versammelten sich am 27. Oktober, um die Frente Amplio und ihren Kandidaten Tabaré Vázquez zu unterstützen. Nach der Auszählung der Hälfte der Stimmen lag der linke Präsidentschaftskandidat bei rund 50 Prozent, wobei die meisten der noch nicht ausgezählten Stimmen in Vázquez’ Hochburg Montevideo lagen. Auch in den beiden Abgeordnetenkammern sieht es nach einem Sieg des linken Bündnisses Encuentro Progresista – Frente Amplio – Nueva Mayoría (Progressive Vereinigung – Breites Bündnis – Neue Mehrheit) aus. Vázquez erklärte sich bereits am Sonntagabend zum Sieger: »Wir werden am Morgen mit der Arbeit am politischen Umschwung beginnen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die nur von den Miltärs zwischenzeitig unterbrochene Herrschaft der Colorado- und die Blanco-Partei, die sich seit 174 Jahren an der Regierung abgewechselt haben, scheint vorläufig beendet.
Für ihren historischen Sieg hatte die uruguayische Linke sogar im Ausland mobilisiert. Mitte Oktober zogen Politiker und Anhänger unter dem Motto »Für einen Sieg des Volkes« durch die Straßen von Buenos Aires. Etwa 50 000 Uruguayer dürften zum Wählen nach Montevideo gefahren sein. Der argentinische Präsident Néstor Kirchner unterstützt Vázquez, ebenso Luis Inacio »Lula« da Silva, der Präsident des Nachbarlandes Brasilien. Beide hoffen auf einen neuen Verbündeten.
Wie Argentinien steckt auch Uruguay seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Der streng neoliberale Kurs der letzten drei Präsidenten hat sie noch verstärkt. Die Auslandsschulden sind mit 12 Milliarden US-Dollar mittlerweile höher als das Bruttoinlandsprodukt. Jährlich sehen sich 20 000 der 3,6 Millionen Einwohner zur Arbeitsemigration gezwungen. Es wandern heute weit mehr Menschen aus, als während der Militärdiktatur (1973 bis 1985) ins Exil gingen. Die meisten der über 450 000 Emigranten verfügen über eine höhere Schulbildung und sind zwischen 20 und 40 Jahren alt; inzwischen ist Uruguay das Land mit der ältesten Bevölkerung Lateinamerikas. Dennoch liegt die Arbeitslosenrate selbst nach offiziellen Angaben bei 17 Prozent. Mehr als die Hälfte der Kinder wächst unter der Armutsgrenze auf, die Unterernährung von Kindern ist ein großes Problem geworden.
Wie in Argentinien ist die Industrieproduktion gesunken. Entweder haben die Besitzer die Fabriken geschlossen, oder die Betriebe arbeiten weit unter ihren Kapazitäten. Auch die Landbevölkerung leidet unter der schlechten wirtschaftlichen Situation. In den letzten 30 Jahren schlossen rund 20 000 landwirtschaftliche Betriebe. Eine Landreform ist bislang nicht durchgeführt worden, und Latifundien dominieren den Landbesitz. Viele haben diese Situation satt, sie wollen eine politische Veränderung und setzen große Hoffnungen auf das linke Bündnis.
Die Frente Amplio vereint 15 linke Gruppierungen mit zum Teil militanter Geschichte. Insbesondere der MPP (Movimiento para la Participación Popular), der sich aus dem MLN (Movimiento Liberación Nacional) und kleineren jüngeren Gruppierungen zusammensetzt, ist in der Bevölkerung bekannt. Als Mitte der sechziger Jahre die damalige Regierung versuchte, die Wirtschaft zu liberalisieren, protestierten Studenten und Arbeiter gemeinsam gegen diese Politik. Aus dieser Bewegung entwickelte sich der MLN, der sich bemühte, die verschiedenen linken Gruppierungen unter ein Dach zu bringen. Im Februar 1971 wurde vor allem auf ihre Initiative die Frente Amplio gegründet, noch im gleichen Jahr stellte das linke Bündnis einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen, doch ohne Erfolg. Eng verbunden war der MLN mit den Tupamaros, der Stadtguerilla, die seit Mitte der sechziger Jahre vor allem in Montevideo bewaffnete und nicht bewaffnete Aktionen durchführte und auch nach dem Militärputsch ihren Kampf fortführte.
Die Blanco- und die Colorado-Partei hatten versucht, die Beteiligung ehemaliger Tupamaros an der Frente Amplio auszunutzten und die Angst in der Bevölkerung zu schüren. Sie behaupteten, die Frente Amplio suche keine demokratischen Wege. Die Repression der Militärdiktatur sitzt der Bevölkerung noch tief in den Knochen, und viele haben Angst, ein Wahlsieg »der Kommunisten« könne eine erneute Militärdiktatur provozieren. Doch bereits 1989, vier Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, gewann die Frente Amplio mit Tabaré Vázquez an der Spitze die Wahlen in Montevideo. Seitdem regiert das linke Bündnis die Hauptstadt und konnte auch im Rest des Landes mehr Anhänger gewinnen.
Vázquez gilt als guter Redner, populärer Politiker und Fußballanhänger. Seine Herkunft aus einem armen Stadtteil erleichtert es ihm, die unteren Bevölkerungsschichten anzusprechen, er arbeitete aber auch als Arzt in den USA und in Paris. Als Präsident will er »die soziale Krisensituation entschärfen« und verspricht, »mit den öffentlichen Geldern verantwortlich umzugehen und sie umzuverteilen«. In Abkehr von der bisherigen Politik der Entstaatlichung unterstützte Vázquez das Referendum gegen die Wasserprivatisierung, das ebenfalls am Sonntag stattfand. Sich auf eine Regierung zu stützen, deren Basis ein Bündnis verschiedener Organisationen ist, stellt nach seiner Ansicht kein Problem dar.
Ein radikales Programm ist das nicht, doch vor allem auf lateinamerikanischer Ebene könnte ein Wahlsieg der Frente Amplio das Kräfteverhältnis beeinflussen. Vázquez unterstützt das Projekt des gemeinsamen südamerikanischen Marktes Mercosur. Der Wirtschaftsverbund, dem Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay angehören, dürfte durch einen Präsidenten, der Kirchner und Lula politisch nahe steht, gestärkt werden, auch wenn Uruguay im Vergleich zu den großen Nachbarländern eine unbedeutende ökonomische Rolle spielt. Der Mercosur gilt als Konkurrenzprojekt zu der von den USA propagierten gesamtamerikanischen Freihandelszone Alca. Die US-Regierung befürchtet auch, dass Vázquez die unter dem Colorado-Präsidenten Jorge Batlle auf Eis gelegten Beziehungen zu Kuba wieder ausbauen könnte.
In Uruguay werden radikale Veränderungen nicht erwartet. Ein Sieg der Frente Amplio würde jedoch das fest gefügte politische System aufbrechen und das Machtmonopol der Blanco- und der Colorado-Partei beenden. Für viele Uruguayer wäre das der Beginn einer neue Etappe ihrer Geschichte. »Es wird eine bessere Verteilung geben, und das Land wird gut verwaltet werden«, hofft der Künstler und ehemalige MLN-Aktivist Nino Denegri.
Moskito
In Antwort auf:http://www.taz.de/pt/2004/12/10.nf/mondeText.artikel,a0062.idx,17
EINE BREITE FRONT GEGEN PRIVATISIERUNGENUruguay, Land der Volksentscheide
Am 31. Oktober wählten die Bürger Uruguays Tabaré Vásquez vom Linksbündnis Frente Amplio zum neuen Staatspräsidenten. Damit ging die - nur von den Jahren der Militärdiktatur 1973 bis 1985 unterbrochene - 170 Jahre währende Macht der Traditionsparteien Colorados und Blancos zu Ende. Am selben Tag sprachen sich in einem Referendum 64,5 Prozent der Wähler für eine weitreichende Verfassungsänderung aus: Wasser gilt fortan als öffentliches Gut, die Wasserversorgung darf nicht privatisiert werden
Von JACQUES SECRETAN ** Journalist, Schweiz
DASS Wasser per Referendum zum nationalen öffentlichen Gut erklärt wird, erlebt man nicht alle Tage. In Uruguay hat sich das Ungewöhnliche nicht zum ersten Mal ereignet. Hier hat es eine breite soziale Bewegung geschafft, den Vormarsch von Neoliberalismus und Privatisierungspolitik erheblich zu bremsen. Ihr jüngster Erfolg ist der Wahlsieg der Mitte-links-Koalition Frente Amplio (FA oder "Breite Front"), die sich aus rund dreißig Organisationen zusammensetzt.
In Uruguay sind die Volksbefragungsinstrumente Referendum und Plebiszit in der Verfassung verankert. Als die Militärdiktatur 1980 ein Plebiszit über eine neue Verfassung abhielt, wurde diese von 57,9 Prozent der Wähler abgelehnt. 1989 schlug das Pendel in die andere Richtung aus: 52,9 Prozent der Bürger sprachen sich per Plebiszit für die Beibehaltung eines 1986 verabschiedeten Gesetzes aus, das den für Folter und Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen fast völlige Immunität verschaffte. Anscheinend war die Bevölkerung für einen Schlussstrich unter den "schmutzigen Krieg"(.1) Tatsächlich stand sie noch unter dem Schock der Diktatur und wollte vor allem die Demokratie bewahren, das heißt den Militärs keinen Vorwand für eine erneute Machtübernahme liefern. Eine Reaktion auf dieses Plebiszit war die Entstehung einer starken sozialen Bewegung, eine andere die politische Konsolidierung der Linken, die sich jetzt in der Frente Amplio kristallisierte.
Seitdem kamen bei jedem Privatisierungsversuch hunderttausende von Unterschriften zusammen - ein nicht nur für Lateinamerika einmaliger Fall. 1992 annullierten die Wähler mit einer Mehrheit von 72 Prozent (die Linke hatte bei den vorangegangenen Wahlen nur 30 Prozent erzielt) 5 von 32 Artikeln des Privatisierungsgesetzes, das die Abgeordneten nach 16 Monate dauernden Kontroversen verabschiedet hatten. Damit retteten sie auch die staatliche Telekom Antel, auf die bereits das Auslandskapital gespitzt hatte. Seither zählt das Unternehmen in Südamerika zu den drei größten Telekommunikationsanbietern, während die meisten anderen Länder ihre Netze an europäische und US-amerikanische Multis verkauft haben, die mit ihrer willkürlichen Tarifpolitik Jahr für Jahr satte Profite einfahren.
Dieses Volk lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen. Am 28. August 1994 lehnte es mit 63 Prozent der Stimmen eine Verfassungsreform ab, mit der die Mehrheitsparteien - und sogar die FA - das Wahlsystem und die Sozialleistungen neu regeln wollten. Allerdings kamen nicht immer genügend Stimmen für eine Volksbefragung zusammen, auch wenn der Erfolg vorderhand gesichert schien. Als etwa im Februar 2001 die Privatisierung des lange vernachlässigten Eisenbahnnetzes und des Container-Terminals im Hafen von Montevideo anstand, reichten die gesammelten Unterschriften für das angestrebte Referendum nicht aus.
Doch der Aufschwung der Linken blieb ungebrochen. Ende 2003 stimmten 62,3 Prozent der Wahlberechtigten gegen jegliche "Assoziation" des staatseigenen Mischkonzerns Ancap ("Nationale Verwaltung für Kraftstoffe, Alkohol und Zement") mit ausländischen Unternehmen und Investoren. Dabei befürworteten auch führende FA-Politiker das Konzept, das den Widerstand gegen die Privatisierung von Staatsbetrieben unterlaufen sollte.
Ancap ist mit 2 400 Beschäftigten der größte Industriekonzern Uruguays. Um binnen Jahresfrist die erforderlichen 620 000 Unterschriften (25 Prozent der Stimmberechtigten) zu sammeln, reisten die 1 200 Mitglieder der Betriebsgewerkschaft - gemeinsam mit 800 berenteten Gewerkschaftern - bis in die entferntesten Winkel des Landes. "Wir konnten 685 000 Menschen überzeugen, dass das Gesetz vom Dezember 2001 mittelfristig mehr Armut im ganzen Land bedeuten würde", erinnert sich der Gewerkschaftsvorsitzende Juan Gómez. "Das war eine großartige Erfahrung, wie tausende von Bürgern und Bürgerinnen, die seit Generationen loyal die traditionellen Parteien wählen, ihre Unterschrift und ihren Fingerabdruck unter das amtlich Formular setzten."
Diese Mobilisierung hat den damaligen Staatspräsidenten Jorge Battle ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch weiter isoliert und in gewisser Weise das Wahlergebnis vom Oktober dieses Jahres vorweggenommen.
Seit ihrer Gründung 1971 hatte die FA in jeder Wahl an Stimmen zugelegt, bis sie am 31. Oktober dieses Jahres unter dem Namen "Encuentro Progresista - Frente Amplio - Nueva Mayoría" (EP - FA - NM) mit 50,45 Prozent erstmals eine absolute Mehrheit erzielen konnte. Das Mitte-links-Bündnis umfasst ein breites Spektrum politischer Strömungen, von den radikal gebliebenen Exrevolutionären der Nationalen Befreiungsbewegung (Tupamaros) bis zu Vertretern der rechten Mitte. Der Extupamaro José Pépé Mujica, heute Senator und Führer der Bewegung für Volksbeteiligung (MPP),(2) stellt allerdings klar: "Die Distanz zwischen den fortschrittlichsten Kräften der Regierungskoalition Blancos/Colorados und unseren am wenigsten linken Genossen ist weitaus größer als die zwischen den verschiedenen Kräften der neuen Mehrheit." Mit 30 Prozent der Stimmen ist die MPP die größte Partei der neu gewählten Linksregierung.
Die Kommunalpolitik in Montevideo, wo mit 1,5 Millionen Einwohnern die Hälfte der Bevölkerung lebt, hat zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen. Hier wurden Parks und Plätze neu gestaltet und sauber gehalten, die Strände verschönert, wurde das Abwassernetz ausgebaut und die fast 20 Kilometer lange Meerespromenade repariert. Das kommt jenen 300 000 Einwohnern zugute, die sich die Fahrt zu einen Strand außerhalb der Stadt nicht leisten können. "Seit zehn Jahren will ich aus Montevideo, dem Sitz des Mercosur [Gemeinsamer Markt des Südens], eine Art Brüssel des Südens machen; ich glaube, wir haben es bald geschafft", sagt Mario Arana, der 2000 von 58 Prozent der Wähler für weitere fünf Jahre zum Bürgermeister gewählt wurde. Obwohl der Staat einen erheblichen Teil der Zuschüsse zum Kommunalhaushalt zurückhielt, um der Opposition das Wasser abzugraben, ist Montevideo wieder zu einer schönen Stadt geworden. Sicher hat das viele Bürger dazu gebracht, auch auf nationaler Ebene den Wechsel zu wagen.
Dabei hat die allgemeine Lage Uruguays die Sanierungsanstrengungen nicht gerade begünstigt. Das Finanzdebakel in Argentinien, das im Winter 2002 auf Uruguay übergriff, hatte nach Ansicht von Mario Arana ebenso verheerende Folgen wie der Big Crash von 1929. Die uruguayischen Ausfuhren nach Argentinien gingen in den ersten vier Monaten 2002 gegenüber dem Vorjahr um 70 Prozent zurück, die Zahl der argentinischen Touristen sank um 50 Prozent. Damals wurden in ganz Uruguay, vor allem in Montevideo, Volksküchen eingerichtet. Ein erheblicher Teil der ausländischen Nothilfe kam aus der EU. Dass fast alle Bedürftigen durchgebracht wurden, war jedoch dem solidarischen Zusammenhalt der Bürger zu verdanken, die in ihren Stadtteilversammlungen die Prioritäten der kommunalen Entwicklungs- und Infrastrukturpolitik bestimmen - im Dialog mit dem Bürgermeister der Hauptstadt, der wohlhabenden Stadtvierteln, wo nicht einmal 2 Prozent der Bewohner unter der Armutsgrenze leben, höhere Steuern auferlegte, die, wie er sagt, "ausschließlich den bedürftigsten Sektoren zugute kamen, wo die Armut bei 50, 60, ja bis zu 95 Prozent liegt".
Während andere Länder Südamerikas - wie Venezuela oder Bolivien - politische Krisen durchliefen, konnte die Finanzkrise in Uruguay das politische System nicht erschüttern. Aus Furcht vor einer "Argentinisierung", also einem Chaos, das den Rechtsparteien in die Hände spielen würde, vermieden die Breite Front und die Gewerkschaft PIT-CNT jede Konfrontation mit der Regierung Jorge Battle.(3) Staatspräsident Tabaré Vásquez bot der abgewählten Rechten sogar eine Zusammenarbeit an und rief alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen zur Einheit auf, um das Land vor Turbulenzen zu bewahren.
Die Zusammensetzung der neuen Regierungskoalition, die mit 17 von 31 Senatoren und 52 von 99 Abgeordneten in beiden Parlamentskammern über die absolute Mehrheit verfügt, spiegelt die politische Stärke der Koalitionsparteien wider. "Es ist unsere Pflicht, den Dialog im Interesse des Gemeinwohls zu fördern", meint der Exguerillero und heutige Senator José Mujica. Der künftige Wirtschaftsminister Danilo Astori spricht sich angesichts des ererbten Schuldenbergs von 10,73 Milliarden Dollar für Neuverhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aus. Absolute Priorität soll die Unterstützung der 100.000 Bedürftigen haben.(4)
"Ich vertraue der Linksregierung", sagt Adriana Marquisio, Vizepräsidentin der Gewerkschaft des Wasserwerkspersonals. "Die Linke wird sich nicht verkaufen. Uruguay ist ein sehr politisiertes Land, selbst in den ländlichen Gegenden nehmen die Menschen an den öffentlichen Angelegenheiten teil und engagieren sich in Kampagnen, beispielsweise für den Erhalt unserer Wasserressourcen. Das Volk lässt sich nicht manipulieren und applaudiert auch nicht dem, was ihm nicht gefällt."
Nachdem zwei Drittel der Bürger in einem Plebiszit die Privatisierung der Wasserversorgung rückgängig gemacht haben, verkündete die mehrheitlich in spanischen Händen liegende Uragua, die seit 2000 im Tourismusgebiet von Punta del Este präsent ist, ihren unverzüglichen Rückzug aus Uruguay. Die geforderte Entschädigungszahlung dürfte sie kaum erhalten. "Das Unternehmen hat nicht nur seine vertragliche Pflicht zur Bereitstellung von sauberem Trinkwasser verletzt: Die Menschen waren gezwungen, Flaschenwasser zu kaufen, weil das Wassernetz mit Kolibakterien verseucht war. Das Unternehmen hat den Steuerzahler in den letzten vier Jahren auch über 100 Millionen Dollar gekostet", resümiert Adriana Marquisio. Das auf Druck des IWF zustande gekommene Experiment produzierte in der Tat nichts als rote Zahlen: 70 Millionen Dollar muss der Staat bis 2009 an Vorabinvestitionen zurückzuzahlen, dazu weitere 20 Millionen Dollar Zinsen; 24 Millionen Dollar, die von Verbrauchern gezahlt wurden, aber im Staatsapparat versickert sind. Hinzu kommen rund 10 Millionen Dollar, die für die Instandsetzung des Leitungsnetzes benötigt werden.
Nicht nur innenpolitisch findet Staatspräsident Vásquez ein günstiges Umfeld vor. Die neue Regierung verstärkt die "fortschrittliche" Richtung, die Brasilien unter Luiz Inácio da Silva ("Lula"), Argentinien unter Nestor Kirchner und Chile unter Ricardo Lagos vorgegeben haben. Und der Bürgermeister von Montevideo zählt auch Venezuela unter Chávez dazu. Doch die neue Regierung in Uruguay dürfte sich eher das Brasilien Lulas zum Vorbild nehmen als das radikale venezolanische Modell.
deutsch von Bodo Schulze
Fußnoten:
(1) Das so genannte Hinfälligkeitsgesetz verhinderte die Einleitung von Ermittlungen gegen ehemalige Verantwortliche der Militärdiktatur, darunter auch Exstaatspräsident Juan María Bordaberry, der sich beim Staatsstreich vom 27. Juni 1973 den Militärs gebeugt hatte.
(2) Die 28 MPP-Volksvertreter (7 Senatoren und 21 Abgeordnete) beschlossen am 8. November, ihre Bezüge (bis auf 20 000 Peso, etwa 600 Euro) in einen Solidaritätsfonds abzuführen.
(3) Dazu Raul Zibechi, "Uruguay, une gauche pour la stabilité", Agence latino-américaine d'information (ALAI), America latina en movimiento, Quito, August 2004.
(4) Die Arbeitslosenquote ist aber dank einer leichten Konjunkturbelebung auf 13,3 Prozent gesunken.
Le Monde diplomatique Nr. 7536 vom 10.12.2004, 291 Zeilen, JACQUES SECRETAN
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