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Fünfzig Jahre Einsamkeit
Fünfzig Jahre Einsamkeit
Von Eliseo Alberto
Nach einem halben Jahrhundert Revolution bleibt Castro nicht viel mehr als Gnadenlosigkeit und der Mythos, unbesiegbar zu sein. Hätte US-Präsident Franklin D. Roosevelt dem kleinen Fidel einst zehn Dollar geschickt, wäre vielleicht alles anders gekommen.
1953 sollte Fidel Castro auf der Isla de Pinos vergiftet werden: 1965 kann er am selben Ort locker Klimmzüge üben.
Am 13. August 1926 ereilte die Kubaner beim Erwachen einer der schlimmsten Alpträume der Karibik: Ein Wirbelsturm fegte über die Insel und hinterliess ein Chaos aus zerstörten Häusern, in reissenden Flüssen dahintreibenden Pferdekörpern und so viele Tote, dass man sie im Schlamm von Massengräbern beerdigen musste, weil nicht einmal die Zeit blieb, sie zu zählen. In einer Hazienda namens Macanas im Dorf Birán, das seiner Kleinheit wegen auf den meisten Landkarten nicht einmal verzeichnet war, wurde an diesem Tag unter Blitzen ein Junge geboren, der den Namen Fidel erhielt. Die Uhr zeigte zwei Uhr morgens. Im Sternzeichen des Löwen kam das Kind in einer vielköpfigen Familie zur Welt – insgesamt würde es sechs Geschwister und zwei Halbgeschwister haben, Letztere aus einer früheren Ehe des Vaters Angel Castro. Drei Tage nach der Geburt durchritt die Mutter und Matriarchin Lina Ruz bereits wieder die 13000 Hektaren des Landgutes, um die Schäden des Wirbelsturmes zu besichtigen. Wer sie in jenen Jahren kennen lernte, erinnert sich an eine Reiterin mit Rossschwanz und umgehängter Winchester, die den Knechten im Vorüberpreschen Befehle und Vorwürfe zuschrie, die wie Peitschenhiebe klangen.
Angel Castro war als Soldat der spanischen Krone von Galicien nach Kuba gekommen. Die Idee, in Kuba im Guten oder im Bösen ein Vermögen zu machen, verfolgte ihn. Er erreichte sein Ziel, vor allem im Bösen: Einige erzählen, er habe Traktoren verkauft, die er zuvor gestohlen hatte; andere, dass er sein Geld vor dem Börsencrash des Jahres 1929 rettete, weil er es klugerweise in einer Schüssel versteckt hatte, statt es auf die Bank zu bringen. Angel vertraute einzig sich selber. Fidel Castro hatte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater: «Ich weiss nicht, wie er seine ersten Jahre auf Kuba erlebte, weil ich nicht neugierig genug war, ihn danach zu fragen», sagte er dem brasilianischen Priester Frei Betto in einem berühmten Interview. Ein Schleier des Geheimnisses umgibt Fidels Kindheit, und die wenigen Szenen, von denen Augenzeugen berichten oder die er in seltenen Momenten der Nostalgie selber erzählt hat, wirken traurig: Um Freunden seinen Mut zu beweisen, hängt er sich als Sechsjähriger an den Balken einer Eisenbahnbrücke, über die ein Zug hinwegdonnert. Ohne zurückzublicken, verlässt er im selben Alter in einer von zwei Pferden gezogenen Kutsche das Landgut in Birán, um auf Geheiss der Eltern aufs Internat zu gehen. In der Jesuitenschule Dolores in Santiago de Cuba zeigt der anklagende Finger eines Paters auf ihn, weil er mit einer Gillette-Rasierklinge Eidechsen seziert hat. Ich habe den Eindruck, diese Fragmente ergeben das Bild eines einsamen Jungen, der in einer monastischen Umgebung nach Zuneigung verlangt. Fern von seiner Familie formte sich sein Charakter in Jesuitenschulen, und so wurde er zu einem jesuitenhaften, eigenwilligen Atheisten, der in blindem Glauben an sich selber einen eigenen Kreuzweg gehen und ein eigenes doktrinäres Evangelium schreiben würde.
Von seiner Mutter erbte Fidel die Arroganz, vom Vater das Misstrauen, und von beiden übernahm er den Machttrieb, den Siegeswillen, die Entschlossenheit, in allem der Erste zu sein – genauso wie die Überzeugung, der Nächste sei ohne falsche Sentimentalität als Feind zu betrachten. Wer vergibt, verliert. Die Söhne der Familie Castro wurden nach dem Grundsatz erzogen, dass sich nichts und niemand ihren Plänen widersetzen durfte und dass das Ziel die Mittel heiligt.
Die Winchester im Anschlag
Mitte der dreissiger Jahre muss sich einer der Sekretäre von Franklin Delano Roosevelt gewundert haben, als er einen Brief aus dem fernen Santiago de Cuba erhielt. Darin bat ein neunjähriger Schüler des Instituts La Salle den Staatsmann um einen Zehndollarschein: «Mein lieber Freund Roosevelt, ich spreche zwar wenig Englisch, aber wage es dennoch, Ihnen zu schreiben. Nie hätte ich zu träumen gewagt, je dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einen Brief zu senden. Ich hätte gerne, dass Sie mir zehn Dollar schicken, denn ich habe noch nie einen Zehndollarschein gesehen; und Ihr Autogramm. Fidel.» Die Antwort kam nach wenigen Wochen: «Vielen Dank für Ihren Brief, aber ich kann Ihnen kein Geld schicken. Franklin.» Noch heute befällt Fidel, jedes Mal wenn er die Episode erzählt, der Ärger. Vielleicht hätten zehn Dollar die Geschichte Kubas verändert.
1961, zwei Jahre nach dem Sieg der Revolution, kamen die Vollstrecker des Gesetzes über die Agrarreform nach Birán, um drei Viertel des Landgutes der Castros zu enteignen, es unter den Bauern zu verteilen und so Fidels in Havanna getroffene Verfügung umzusetzen. Der Patriarch Angel war bereits tot, so dass es an Lina Ruz lag, sich hinter einem der Fenster des Hauptgebäudes zu verschanzen, die Winchester anzulegen und sich mit den Vertretern der staatlichen Autorität ein Feuergefecht zu liefern. Sie verlor die Schlacht und das Land. Fidels Mutter starb wenig später, ohne ihrem Sohn diesen undankbaren Akt der Enteignung zu verzeihen – einen Akt, den man als späte Abrechnung verstehen kann für den Moment, als er als Sechsjähriger alleine weggeschickt wurde. Nun brauchte Fidel Castro kein Landgut mehr. Er beherrschte eine ganze Insel.
Am Mittwoch, dem 13. August 2003, wurde Fidel Castro 77 Jahre alt. 44 davon hat er sein Land geführt, ohne dass jemand imstande gewesen wäre, seine Launen zu verhindern. Heute leben noch fünf der zehn US-Präsidenten, deren wiederholte Versuche, ihn zu entmachten oder ermorden zu lassen, allesamt scheiterten. Jeder von ihnen hat auf seine Weise das Gegenteil des Gewünschten erreicht.Ohne es zu wollen, haben sie gemeinsam die Legende gefestigt, Fidel sei der hartnäckigste Feind der USA in den letzten fünf Jahrzehnten. So entstand zu Beginn der Revolution das Bild eines charismatischen David, der dem anmassenden Goliath trotzt, während sich die Weltöffentlichkeit in den letzten Jahren an einen alten David gewöhnt hat, der wundersamerweise noch immer mit Steinen um sich wirft, allerdings meist ohne zu treffen. Castros senile Drohungen beeindrucken nur noch wenige, denn der fast Achtzigjährige hat kein Geld mehr, um grosse politische und militärische Projekte zu verwirklichen. Eine weltpolitische Rolle kann jener einst kämpferische Fidel auf seiner Insel, die wie ein festgefahrenes Schiff ohne Kompass im Bermudadreieck liegt, längst nicht mehr spielen.
Der letzte Gott des Sozialismus
Die Gegner des Caudillo halten Fidel für einen fanatischen Inquisitor mittelalterlichen Zuschnitts, für seine Anhänger ist er ein furchtloser König, der einzige überlebende Gott einer Religion, die sich Sozialismus nennt. Für mich, den ich ihn weder verehre noch hasse – denn dieses Gefühl ist mir fremd –, ist Castro eine vielschichtige, überraschende Figur. Ich befürchte, wir Kubaner werden die siebenundneunzig verbleibenden Jahre dieses Jahrhunderts damit verbringen, ihn zu verurteilen oder zu rechtfertigen, während wir versuchen, die Spuren, die seine Militärstiefel in der Geschichte Kubas hinterlassen haben, zu verwischen – eine Geschichte, die unser Land durch Intoleranz und Machtmissbrauch geteilt und es in einen tiefen, vielleicht hoffnungslosen Bankrott gestürzt hat. Unsere Zukunft scheint regnerisch. Zwar heisst es in einem Grossmutterspruch, dass auf Regen Sonnenschein – oder Frieden – folgt. Wenn Fidel Castro eine Schuld hat, dann besteht sie darin, für so viele Jahre verhindert zu haben, dass wir in wirklichem Frieden leben. Sein privater Krieg ist nicht notwendigerweise der Krieg eines ganzen Volkes.
Doch während der einsame David auf seinem Thron dahinsiecht, ist Goliath immer noch Goliath. Die Berater von George W. Bush haben in letzter Zeit unermüdlich wiederholt, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht einmal an einen «chirurgischen Angriff» gegen Kuba denken, weil es besser sei, auf eine «biologische Lösung» zu warten, wie sie es nennen. Sie haben resigniert und hoffen auf die schwächelnde Gesundheit eines nachtwandelnden Kriegers, der wohl die meisten der rund 18250 Nächte des revolutionären Kampfes und seiner Herrschaft mit dem Ausbrüten von Intrigen verbracht hat – von jenem 26. Juli 1953, als er die Moncada-Kaserne angriff und dafür zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, bis zu seinem letzten Geburtstag, an dem er endlich in aller Öffentlichkeit gestand, er werde so lange die Geschicke Kubas lenken, wie die Natur es zulasse, «nicht eine Sekunde mehr und nicht eine weniger». Zum ersten Mal waren sich Washington und Havanna vollkommen einig: Die Zeit wird das letzte Wort haben.
Ein trauriges Testament
Ein anderer Grossmutterspruch besagt, die Hoffnung sterbe zuletzt. Aber viele haben die Hoffnung schon in den ersten Kapiteln dieser Geschichte begraben. Fidels früheste Kritiker waren Mitschüler und Verwandte, die ihm kurz vor und nach dem Sieg der Revolution die Unterstützung verweigerten, weil sie behaupteten, ihn schon von früher Kindheit an zu kennen. Fidel zögerte nie, wenn es galt, seiner Macht eine Freundschaft zu opfern. Der herausragende kubanische Journalist Miguel Angel Quevedo öffnete seinem Gefährten Fidel im Kampf gegen den Diktator Fulgencio Batista die Seiten der Zeitschrift Bohemia, damit er unzensuriert seine Ansichten verbreiten konnte. Nach dem Sieg der Revolution befahl Fidel Quevedos Entlassung und Exilierung. In Miami schrieb der Journalist ein unerträglich trauriges politisches Testament, in dem es heisst: «Wir alle sind schuldig. Fidel ist das Ergebnis eines Ausbruchs an Demagogie und Unvernunft, alle haben wir zu seinem Sieg beigetragen. Ich sterbe voller Ekel. Einsam. Verbannt. Verraten von Freunden, denen ich in schwierigen Tagen moralisch und finanziell geholfen habe. Hoffentlich zwingt sie mein Tod zum Nachdenken. Auf Wiedersehen. Dies ist mein letztes Aufwiedersehen.» Quevedo setzte seine Unterschrift unter das Dokument und erschoss sich.
1955, vier Jahre vor Castros Machtergreifung, sprach sich Rafael L. Díaz-Balart, der Bruder seiner ersten Ehefrau Mirtha Díaz-Balart, im Parlament gegen die Amnestie aus, dank der sein Ex-Schwager aus dem Gefängnis entlassen werden sollte – nachdem erst zwanzig Monate seiner fünfzehnjährigen Haft verstrichen waren. Díaz-Balart sagte: «Fidel Castro und seine Männer wollen nur eines: die Macht, die totale Macht. Und sie wollen sie mit Gewalt, um danach die Verfassung und jedes Überbleibsel von Recht ausser Kraft zu setzen und in Kuba eine barbarische Tyrannei zu errichten. Ich bete zu Gott, dass ich Unrecht habe.»
Er hatte nicht Unrecht. Nach Fidel Castros Sieg verbrachte Díaz-Balart den Rest seines Lebens im Exil und konnte Kuba auf seinen ständigen Reisen zwischen Madrid und Miami nur noch durch das Flugzeugfenster sehen. Aber ein spanisches Sprichwort sagt, dass nichts Schlechtes hundert Jahre währt und dass kein Körper hundert Jahre Leid erträgt.
600 Minuten der Ungewissheit
Am 23. Juni 2003 fand in Cotorro, einem trostlosen Dorf dreissig Kilometer vor Havanna, ein «Akt revolutionärer Bestätigung» statt. Plötzlich begriffen 60000 Kubaner, dass das Leben und die Geschichte an einem hauchdünnen Faden hängen, denn Fidel Castro begann nach einer zweistündigen Rede unter brennender Sonne zu stammeln. Der Líder máximo taumelte. Die Knie gaben nach. Die Honoratioren auf der Tribüne versteinerten. Schliesslich rannte ein junger Mann – einer von Fidels Söhnen – auf den Revolutionär zu und versuchte, ihn zu stützen, während er mit den Augen um Hilfe bat. Drei unendliche Sekunden schwebte der Tod über dem Podium. Alles schien innezuhalten und einzufrieren. Dann endlich reagierten die Leibwächter. Der Sohn zog sich zurück, damit sie den Bewusstlosen hochheben und zum kleinen mobilen Spital bringen konnten, das ihn seit einem Jahrzehnt wie ein hochgerüsteter Schutzengel begleitet. Der Krankenwagen, der normalerweise inmitten von Fidels Wagenkohorte fährt, setzte sich an die Spitze und verschwand hinter einer Kurve. Die Leibwächter lehnten sich mit ihren Waffen im Anschlag aus den Fenstern der Begleitfahrzeuge. Aussenminister Felipe Pérez Roque versuchte, die Menge mit einer hoffnungsvollen Rede zu beruhigen, aber indem er «Viva Raúl!» brüllte, erreichte er das Gegenteil: Wenn er Fidels Bruder und designierten Nachfolger hochleben liess, musste die Lage hoffnungslos sein. Doch zehn Stunden später vereinten sich die beiden kubanischen Fernsehkanäle auf einer Frequenz, und Fidel kehrte strahlend und gut gelaunt zurück, wie um zu beweisen, dass das Schlechte doch hundert Jahre währen und ein Körper doch hundert Jahre Leid ertragen kann.
Während dieser sechshundert Minuten der Ungewissheit versuchten elf Millionen Kubaner auf der Insel und zwei Millionen im Exil sich vorzustellen, wie das Leben ohne die Gegenwart des verherrlichten und verabscheuten Mannes sein würde. Die einen waren überzeugt, dass die Revolution nun endgültig zu Ende ging, weil das Verschwinden des Comandante die Türen zu einer lange erträumten demokratischen Regierung öffnen würde. Die anderen glaubten, genau diese Türen wären nun erst recht verschlossen, weil die Nutzniesser der Macht beweisen müssten, dass die Revolution trotz des harten Schlages überleben konnte, allein dank ihrer Werte. Unbestreitbar war, dass für alle Kubaner nichts mehr wie zuvor sein würde. Ich zähle mich nicht zu den Apokalyptikern, die in jenen Stunden befürchteten, die Nation werde unter dem Druck politischer Rivalitäten auseinander fallen und im Bürgerkrieg versinken; und auch nicht zu denen, die glaubten, der Mythos Fidel werde den historisch-biografischen Fidel ersetzen. Als Feind jedes Fanatismus und Revanchismus gehöre ich zu den Gutgläubigen, die noch immer auf die Überwindung und die Beständigkeit der kubanischen Revolution zugleich hoffen – ein System, das mit seinem Schul- und Gesundheitswesen und der Gleichberechtigung wahre Wunder vollbracht und zugleich eine administrative Unfähigkeit und eine eiserne Unnachgiebigkeit gegenüber oppositionellem Denken bewiesen hat. Ein System, das sich auf eine pyramidenförmige, versteinerte Hierarchie stützt und auf eine Nomenklatura, die Andersdenkenden keinerlei Platz einräumt, es sei denn das Gefängnis oder die Verbannung. Beständigkeit der Errungenschaften, auf welche die Kubaner kaum widerstandslos verzichten würden, und Überwindung des Dogmatismus und des Totalitarismus. Von solchen Dingen sprach man während jenes langen Juni-Samstagnachmittages. Fidels Rückkehr beendete die Diskussionen. Die Revolution würde andauern.
Eines der Geheimnisse von Fidel Castros 44-jähriger Herrschaft besteht darin, selbst seine Gegner in ihrer Ablehnung wanken zu lassen. Der ehemalige mexikanische Präsident Carlos Salinas de Gortari sagte einst zu Henry Kissinger, seiner Ansicht nach sei es dramatisch, wie wenige charismatische Politiker die Menschheit noch habe. Darauf antwortete Kissinger, einer überlebe neunzig Meilen von Florida. Lachend fügte er hinzu, dass er diese Aussage dementieren müsste, sollte sie jemals an die Öffentlichkeit gelangen, denn sie könne seinen Ruf als Historiker beeinträchtigen. 1959 sprach Richard Nixon, damals Vizepräsident der USA, in seinem Büro in Washington unter vier Augen mit «Doktor Castro». Jahre später sagte er gegenüber der Presse, er habe sofort verstanden, dass der Besucher «ein Kommunist oder zumindest ein Weggefährte der Kommunisten» sei; aber kein intelligenter Mensch könne sich seiner Anziehungskraft entziehen. «Er ist sehr unterhaltsam und hat die zwei Stunden, die ich ihm widmete, verdient.»
Jesús Yanez Pelletier, während jener frühen Reise Fidels persönlicher Sekretär, erzählte später dem Schriftsteller Santiago Aroca, Cas- tro sei mit dem Empfang unzufrieden gewesen, weil er gehofft hatte, General Eisenhower persönlich kennen zu lernen und ihn auf dem Golfplatz des Weissen Hauses zu einem Spiel herauszufordern. Dafür hatte er mit einem Pingpongball und einem Baseballschläger im Flur der kubanischen Botschaft geübt. Während er auf das Treffen wartete, wurde er vom Bürgermeister von New York und dem Generalsekretär der Uno empfangen, besuchte die Redaktion der Zeitschrift Life in der 5th Avenue und den Zoo in der Bronx. Er sprang über das Geländer, das den Käfig der Tiger umgab, und versuchte, die Raubtiere durch die Gitterstäbe zu streicheln. Vor einer Gruppe millionenschwerer Unternehmer hielt er eine zweistündige Rede. Diese konnten nicht verstehen, wie der in eine olivgrüne Uniform gekleidete 33-jährige bärtige Revolutionär, wie dieser gross gewachsene Kubaner, der es wagte, die US-Regierung um den unfassbaren Betrag von 30 Milliarden Dollar Wirtschaftshilfe für Lateinamerika zu bitten, wie dieser rhetorische Magier, der versprach, dem Yankee-Imperialismus (und damit auch seinen eigenen Zuhörern) das Genick zu brechen, wie dieser potenzielle Diktator, dieser zukünftige Feind es fertig brachte, sie von Kopf bis Fuss zu verhexen – und zwar derart, dass sie nach der Rede, die mit einer flammenden Verherrlichung der Dritten Welt endete, aufstanden und ihm eine Ovation darbrachten. Das Golfspiel hingegen fand nie statt, und wahrscheinlich hat diese zweite Abfuhr die Wunde wieder aufgerissen, die Fidel ein Vierteljahrhundert zuvor von Franklin Delano Roosevelt zugefügt wurde, als ihm dieser den Zehndollarschein verweigerte.
Selbst Kissinger war beeindruckt
Das Bestreben, im Mittelpunkt zu stehen, ist eine unter Mächtigen verbreitete Krankheit. Nur wenige schaffen es, ihrer Eitelkeit nachzugeben, ohne sich lächerlich zu machen. Fidel rettet seine Verführungskraft. Die Finger einer Hand genügen, um die Persönlichkeiten zu zählen, die in den letzten vier Jahrzehnten der Macht seines Wortes widerstanden haben. Nicht nur der weltkluge Kissinger, der widerborstige Nixon und der lautere Carter haben sich einlullen lassen, sondern auch Papst Johannes Paul II. und Augusto Pinochet, um nur je einen Vertreter Gottes und des Teufels auf Erden zu nennen. Doch niemand wurde zu Fidels Freund, denn Männer wie er öffnen ihr Herz nie. Seine Verwandten, Mitschüler, Untergebenen und Mitkämpfer wissen dies sehr genau, und viele von ihnen liessen ihr Leben vor einem Exekutionskommando oder verbrachten ihre besten Jahre in einem Kerker, weil sie es gewagt hatten, eine seiner Wahnvorstellungen abzulehnen. Charisma gibt dem Erfolg einen eigenen Glanz, aber in den Augen jener, die dem Charisma verfallen, kann es noch den grössten Verfehlungen einen Anflug von Rechtmässigkeit verleihen. Einer der gültigsten Volkswahrheiten zufolge berühren sich die Extreme. Laut einer Statistik der Weltbank für das Jahr 2002 beträgt die Lebenserwartung auf Kuba 76,8 Jahre, von tausend Kindern sterben acht, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen – im übrigen Lateinamerika sind es 34, in Frankreich sechs. Die kubanische Analphabetenrate liegt bei 3,1, jene der Dominikanischen Republik bei 15,6 Prozent. Im April dieses Jahres wurden auf Kuba mehr als 70 friedliche Dissidenten und unabhängige Journalisten in kurzen Massenprozessen zu insgesamt mehr als 1454 Jahren Haft verurteilt. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der politischen Gefangenen auf 300, Kuba ist das einzige Land der westlichen Hemisphäre, das Vertretern des Roten Kreuzes den Besuch der Gefängnisse verweigert. Die Haftbedingungen sind laut Amnesty International «grausam, unmenschlich und erniedrigend». Niemand weiss, wie viele tausend Kubaner ertrunken sind, als sie versuchten, von der Insel zu flüchten. Die Verführer können widerlich sein, die Mutigen feige, die Gerechten unerbittliche Rächer, die Schönen abstossend und die Erleuchteten halsstarrige Narren. Der Machtmensch nimmt ein zweifaches Risiko auf sich: dass ihn am Ende niemand liebt und niemand wirklich kennt. Und dass ihn der Dünkel oder das Misstrauen erstarren lässt, wenn er in den Spiegel blickt.
«Das Glück ist mein Leibwächter»
Der Kern von Castros Mythos ist die Unverwundbarkeit. Wenn das Glück eines Kriegers darin besteht, dem Tod zu entkommen, dann kann der kubanische Comandante auf sein Glück stolz sein. Den Tod hat er so oft genarrt, dass seine Biografen die Übersicht verloren haben. So hätte er im Gefängnis auf der Isla de Pinos sterben sollen, als die Direktion 1953 den Befehl erhielt, seinen Salat mit Arsen anzureichern. Doch ein Offizier weigerte sich, die Tomaten zu vergiften, und informierte stattdessen die Öffentlichkeit über den Mordbefehl. Es war der bereits erwähnte Jésus Yanez Pelletier, der später Fidels persönlicher Sekretär werden sollte. Aber dann, eines schönen, ungerechten Tages, begann der Líder máximo dem Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, zu misstrauen. Aufgrund eines abstrusen Gerüchts liess er ihn zu 15 Jahren Haft verurteilen, von denen Pelletier elf in jenem Gefängnis absitzen musste, in dem er Fidel kennen gelernt hatte.
Fidel hätte schon sterben können, als er sich 1947 einer Expedition anschloss, die den dominikanischen Diktator Rafael Leónidas Trujillo entmachten wollte. Nachdem die Truppe von der kubanischen Küstenwache aufgegriffen worden war, stürzte sich Fidel ins haiverseuchte Wasser und schwamm Stunden, bis er erschöpft, aber heil die heimische Küste erreichte. Einer anderen Quelle zufolge ist er als Einziger heimlich im Rettungsboot geflüchtet, während seine Kameraden zurückblieben.
Er hätte auch während des Guerrillakrieges gegen Fulgencio Batista sterben können, in irgendeiner Schlucht der Sierra Maestra. Eine Zeit lang teilte er seine Hängematte mit dem Bauern Eutimio Rojas, der mehrmals versucht war, ihn wegen einer kleinen Summe Geldes zu erschiessen. Als er seine Anfechtung gestand, wurde er als Verräter hingerichtet.
Nach dem Sieg der Revolution hat die CIA versucht, Fidel zu vergiften, sie hat ihm Pülverchen geschickt, damit ihm der Bart ausfalle, sie hat seinen Taucheranzug mit Tuberkulosebazillen infiziert und versucht, ihn mit einer dynamitgefüllten, am Strand platzierten Muschel in die Luft zu jagen. Ein vom amerikanischen Geheimdienst angeheuerter Mafioso hätte ihn mit einem Schuss in die Stirn erlegen sollen, was ebenso misslang wie der Plan, ihn mit einem Gewehr zu töten, das in einer Fernsehkamera versteckt war. «Dass ich lebe, ist ein Wunder. Das Glück begleitet mich, es ist mein treuster Leibwächter: der Schatten meines Schattens.»
Den Satz habe ich Fidel während eines Grillnachmittages auf einer Viehfarm in Nicaragua sagen hören. Es war der Juli des Jahres 1980, und die Sandinisten feierten den ersten Jahrestag ihres Sieges über Somoza. Der Comandante war Ehrengast, denn von seinem Schreibtisch in Havanna aus hatte er nicht nur mit Ratschlägen zum Erfolg beigetragen, sondern auch, indem er Dutzende eigener Soldaten in den Kampf schickte. Ich war ein Journalist, der Kuba zum ersten Mal für eine Reportage verlassen hatte, und ich war ergriffen, weil ich einen grossen Moment erlebte. Eine Revolution wie die nicaraguanische, die zum ersten Mal die Bühne der Geschichte betritt, ist ein eindrückliches Schauspiel. Man atmet Fröhlichkeit. Alles vibriert zu den Klängen der Hymnen, die Hoffnung macht schön, und der Überschwang vertreibt den Hunger.
Fleisch von zehn Kühen
Die Reise führte uns vom Norden in den Süden, Dorf für Dorf, bis an diesem heissen Sommernachmittag eine Pause eingelegt wurde, um auf der prunkvollsten Farm, die ich jemals gesehen habe, zu speisen. Auf dem Grill briet das Fleisch von zehn Kühen. Es gelang mir, mich drei Plätze von Fidel entfernt an den Tisch zu setzen, und so hörte ich, was er Edén Pastora erzählte, dem legendären Comandante Cero – einem Verrückten aus Costa Rica, dem die Zeitungen weltweit ihre Titelseite gewidmet hatten, nachdem es seiner Guerrillagruppe gelungen war, mit Waffengewalt das Gelände des nicaraguanischen Nationalpalastes zu erobern und hundert Abgeordnete als Geiseln zu nehmen. Fidel war damals 53, er sah stark und gesund aus. Ich beobachtete seine Hände, die viereckigen Fingernägel und dicken Venen. Die Hände waren ausdrucksstark, es schien, als bewegten sie sich unabhängig vom Körper, wie die Arme einer Marionette, die ein genialer Spieler belebt. Er war sich seiner auf unzähligen Tribünen erprobten Verführungsmacht bewusst. Nach jedem Satz liess er die Faust auf den Tisch fahren, als ob er ein Urteil fällte. Eine neue Flasche Wein wurde geöffnet. Er begann von den vielen Hinterhalten zu erzählen, die man ihm gestellt hatte und denen er durch die unglaublichsten Zufälle entgangen war. «Ich bin häufig über ein Minenfeld gegangen, ohne es zu wissen», sagte er zu Edén Pastora.
Zwei Tage später trafen sich die Mitglieder der kubanischen Delegation und die in Managua akkreditierten Journalisten auf einem Empfang wieder, zu dem die sandinistische Regierung ihre Gäste geladen hatte. Ich erinnere mich an einen beunruhigenden und zugleich bedeutungslosen Moment des Abends, wie wenn ihn das Gedächtnis auf eine Kinoleinwand projizieren würde. Ich hatte mich zu langweilen begonnen und suchte nach einer Ecke, um mich auszuruhen. Als ich zur Stelle blickte, wo sich Fidel soeben noch mit seinen Gefährten unterhalten hatte, sah ich ihn alleine, in einem Sessel versunken, mit hängenden Schultern. Es war, als ob ihn alle verlassen hätten. Niemand beachtete den Monarchen, niemand. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig Mitleid empfand. Nach einigen Minuten näherte sich der Dichter und Geistliche Ernesto Cardenal, damals Nicaraguas Kulturminister, und Fidel schien sich wieder zu beleben.
Der Vorfall hat keine tiefere Bedeutung. Aber mich erinnert er daran, dass den Mächtigen vieles möglich ist, ausser die Zeiger der Geschichte aufzuhalten, und dass sie früher oder später zur Einsamkeit verdammt sind. Niemals habe ich jene inmitten des Trubels versunkene, gelangweilte Figur vergessen, die auf ihrem Sessel sass wie eine Marionette ohne Fäden – ein Bild, das an Fidels heutige internationale Isolation erinnert. Ich beschloss, mich zu nähern, um das Gespräch zwischen dem Kommunisten und dem Geistlichen zu verfolgen. Ich hörte, wie Fidel etwas vom ersten Mal sagte, als er beinahe gestorben wäre, und zwar am Tage seiner Geburt. Zerstörte Bauernhöfe. Pferde, die in reissenden Flüssen dahertreiben. Gewieher. Der Schlamm der Massengräber. Das Thema war seine Obsession.
Einen Moment lang erfasste mich Fidels Blick, nicht ohne Misstrauen. Er fragte mich, wer ich sei. «Ich habe dich beim Grillieren auf der Farm gesehen», sagte er mit lauter Stimme, als würde er in einem Album ein verlorenes Bild suchen. Ich erwiderte, ich sei ein kubanischer Journalist. Er gestand mir – nachdem er verlangt hatte, dass ich es nicht in meiner Reportage erwähne –, er habe den Geistlichen Cardenal soeben um einen konkreten Beweis gebeten, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich erinnere mich, dass Cardenal antworten wollte, aber Fidel unterbrach ihn, indem er mit seinen Fingern eine scherenartige Bewegung machte. Halb im Ernst, halb im Scherz sagte er, dass er sich angesichts all seiner Feinde noch in jedem Zirkel der Hölle vorsehen müsse. Seit dem Gespräch sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Fidel Castro hat seine Todesversessenheit längst einem ganzen Land aufgezwungen – es scheint, dass er eher Kubas Untergang hinzunehmen bereit ist, als seine Macht zu verlieren oder seine Ideologie preiszugeben. Die Frage nach der Existenz des Jenseits, die ihn in jener Nacht umtrieb, wird er bald selber beantworten können.
Eliseo Alberto, 51, Sohn des berühmten kubanischen Lyrikers Eliseo Diego, lebt seit 1990 in Mexico City. Bekannt wurde er durch seine Autobiografie «Rapport gegen mich selbst. Ein Leben in Kuba» und die Romane «Caracol Beach» und «Die Geschichte von José». 1999 stand «Caracol Beach» auf der Los Angeles Times-Liste der zehn besten Bücher des Jahres.
Aus dem Spanischen von Sandro Benini.
#2 RE:Fünfzig Jahre Einsamkeit
Der viel zu früh verstorbene Autor Eliseo Alberto de Diego García Marruz stammt selbst aus Kuba, siehe:
https://en.wikipedia.org/wiki/Eliseo_Alberto
Zitat von jojo1 im Beitrag #3
Der viel zu früh verstorbene Autor Eliseo Alberto de Diego García Marruz stammt selbst aus Kuba, siehe:
eigentlich nicht wirklich erstaunlich , steht doch im ersten Artikel:
Zitat von im Beitrag #1
Fünfzig Jahre Einsamkeit
Von Eliseo Alberto
... Eliseo Alberto, 51, Sohn des berühmten kubanischen Lyrikers Eliseo Diego, lebt seit 1990 in Mexico City. Bekannt wurde er durch seine Autobiografie «Rapport gegen mich selbst. Ein Leben in Kuba» und die Romane «Caracol Beach» und «Die Geschichte von José». ....
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