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Wird er es vermasseln?
http://www.zeit.de/2006/49/Chavez
Mission Malzwhisky
Von Reiner Luyken
Venezuelas Präsident Hugo Chavez verspricht eine gerechte Welt. Das Öl hat sein Land in den vergangenen Jahren zwar reicher gemacht, doch die meisten Menschen sind ärmer als zuvor
Caracas
Die letzten zwölf Monate liefen für Hugo Chávez nicht nach Plan. Zwölfmal wurde in Lateinamerika gewählt, und der venezolanische Präsident Hugo Chávez hatte einen politischen Erdrutsch vorhergesagt. Doch mehrere der von ihm geförderten linkspopulistischen Kandidaten fielen durch. An diesem Sonntag steht nun Chávez selbst zur Wahl. An seinem Sieg besteht kaum ein Zweifel. Aber ist das auch ein Beweis für den Erfolg des Mannes, der im Namen des Freiheitskämpfers Simón Bolívar eine Revolution ausgerufen und seinen Landsleuten eine gerechtere Welt versprochen hat?
Marlon Acosta, Direktor für Information im Außenministerium der Bolivarischen Republik Venezuela, empfängt den Besucher mit Broschüren. Eine informiert über die als »bolivarische Missionen« organisierten Errungenschaften der Revolution. Für alles und jedes gibt es in Chávez’ Venezuela eine Mission, die Misión Ribas für die Erziehung (»Wir eilen von Sieg zu Sieg«), die Misión Arbol für die Umwelt (»Wir retten den Planeten«), die Misión Milagro für Auslandsurlaube für die arbeitenden Massen. Als Beispiel für Fortschritte, die unter einem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« möglich seien, hatte Chávez in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die Misión Barrio Adentro angeführt, eine »die entmenschlichende Medizin des Kapitalismus ersetzende humanistische Gesundheitsversorgung, die siebzig Prozent der Bevölkerung erstmals Zugang zu freier ärztlicher Versorgung verschafft«.
Das Ärztezentrum der Misión in einem ärmlichen Viertel des Stadtteils Chacao in Venezuelas Hauptstadt Caracas ist in der Tiefgarage unter einer Polizeistation untergebracht. Zwei Dutzend Menschen stehen in der Einfahrt und warten seit den frühen Morgenstunden auf Behandlung. Hinter einer Tür befindet sich eine Augenklinik, hinter anderen Türen arbeiten praktische Ärzte und Zahnärzte. In den Empfangszimmern hängen Fotos von Chávez und dem kubanischen Präsidenten Fidel Castro, dazwischen werben Spruchbänder für Frieden und Solidarität.
Der größte Andrang herrscht in der Augenklinik. Ein Optiker vermisst die Sehkraft, ein Doktor untersucht die Augen. Eine Stunde später verteilt ein Helfer Brillen. Manche Patienten bekommen zwei Brillen, eine zum Lesen und eine für den Alltag. Zufrieden begutachten sie die nicht unattraktiven Rahmen. David Martinez, ein glühender Anhänger des Präsidenten, erklärt: »Früher waren wir das vergessene Volk. Jetzt erfüllt der Ölreichtum unseres Landes seine soziale Verantwortung. Das ist Solidarität in Aktion. Darauf sind wir stolz.«
Matilde Armijo allerdings ist weniger zufrieden. »Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich mit der neuen Brille immer noch nicht gut sehen. Ich habe sie nur genommen, weil es hier keine Wartelisten gibt.« Seit sechs Wochen wartet sie auf einen Termin beim Gesundheitsdienst des Sozialministeriums. Dort, hofft sie, wird sie bessere Augengläser angepasst bekommen, ebenfalls kostenfrei. Tatsächlich ist Barrio Adentro gar nicht der erste freie Gesundheitsdienst Venezuelas, wie Chávez behauptet, sondern ein dritter neben zwei schon seit langem bestehenden Systemen. Neu an Barrio Adentro ist, dass die kubanischen Ärzte, die Castro im Gegenzug für verbilligtes Öl an Venezuela ausleiht, sich zu Hausbesuchen in die von Kriminalität zerrütteten Slums wagen. Ihre wohlhabenderen venezolanischen Kollegen meiden die Barrios aus Angst vor Entführungen und Lösegelderpressungen.
Denn seit Chávez 1999 an die Macht kam, stieg die Mordrate in Venezuela um 67 Prozent. Allein im vergangenen Jahr wurden 9962 Menschen umgebracht. Die Angst vor der wuchernden Kriminalität hält viele Slumbewohner davon ab, lange Wege zu bestehenden Arztpraxen in Kauf zu nehmen. Insofern ist Barrio Adentro ein Fortschritt – auch wenn viele Patienten noch immer den herkömmlichen Gesundheitsdienst der Stadtverwaltung bevorzugen.
La Pastora, früher die hübsche Altstadt von Caracas, ist fest in der Hand der Chavistas, der Anhänger des Präsidenten. Die Farbe blättert von den Fassaden ab. Fensterbretter dienen als Hühnerkäfige. Ladenbesitzer bedienen ihre Kundschaft durch schwere Eisengitter. Arme schlingen Mahlzeiten aus Plastikbehältern in sich hinein. Die haben sie von Eibore Barnos de Isil bekommen, die hier eine von landesweit mehr als 6000 Suppenküchen betreibt, Teil der Misión Mercal, einer »Übergangslösung zur Linderung des Hungers, während Strukturen geschaffen werden, welche die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus beseitigen«.
Die »Vorhut des ideologischen Trainings« trägt Baseballmützen
Frau de Isil kocht mit vier Helferinnen in ihrer Küche jeden Tag über 150 Mahlzeiten. Dafür müsse sie sich allerdings, sagt sie, mit der Missgunst ihrer Nachbarn abfinden. Da herrsche Neid und Verärgerung bei Ladenbesitzern über die subventionierte Konkurrenz und Widerwillen gegen die »Geisteskranken, Gangster und Drogensüchtigen«, die sich vor ihrer Haustür herumdrückten. Der Widerwille wird durch Gerüchte über Veruntreuung von Lebensmitteln genährt.
Frau de Isil zählt sich zur Mittelschicht, ihr Mann ist Zimmerer. »Um ganz ehrlich zu sein«, sagt sie, »uns geht es besser als früher. Zwei unserer Söhne studieren in Kuba. Mein Mann findet jetzt Arbeit. Ich verdiene besser als früher, damals war ich Sozialarbeiterin. Ich betätige mich in der Lokalpolitik. Früher war ich in dieser Hinsicht völlig apathisch.«
Fördert die Revolution tatsächlich den Wohlstand und politisches Engagement? Zwei Dutzend Demonstranten, Mitglieder einer Misión Vuelvan Caras, die sich mit knallroten T-Shirts und Baseballmützen als »Vorhut des ideologischen Trainings« kenntlich machen, fordern mit einem Sprechchor vor dem Rathaus, vom Bürgermeister empfangen zu werden. Es dauert nicht lange, bis man sie vorlässt. Der Leiter des Büros für Volkspartizipation im Bürgermeisteramt, ein sympathischer, junger Mann namens William Martinez, kommentiert begeistert: »Hier können Sie sehen, was für eine lebendige Demokratie wir haben. Jeder darf seine Meinung vertreten.«
Die Erdölproduktion ist gesunken, seit Fachleute entlassen wurden
Doch der Eindruck trügt. Drei oppositionelle Journalisten wurden dieses Jahr ermordet. Der Präsident drohte oppositionellen Fernsehsendern den Entzug ihrer Lizenz an. Ungenehmen Korrespondenten wird der Zugang zu Auskünften versagt, trotz einer in der Verfassung verankerten Informationsfreiheit.
Das Staatsfernsehen strahlt jeden Sonntag die oft mehrstündige TV-Show Alo Presidente aus. Da erleben die Venezolaner ihren Präsidenten so, wie er von ihnen gesehen werden will. Volkstümlich, humorvoll, aber auch staatsmännisch. Früher war die Selbstdarstellung oft komisch, heute ist sie professionell und clever. Alo Presidente ist das Forum, auf dem Chávez Politik macht und Dekrete verkündet. Oft heizt er das rhetorische Feuer gegen die USA an. Er behauptet dann gerne, Venezuela befände sich bereits in der ersten Phase eines »asymetrische Krieges«, den Washington gegen sein Land angezettelt habe.
Eine nationale Mobilmachung ist im Gange. Sie heißt Misión Miranda. Zwischen zehn und dreißig Venezolaner unterschreiben jeden Tag ein zweiseitiges Formular, das Pablo Louis Peña an einem Stand vor dem Rathaus am Plaza Bolívar für sie ausfüllt. Er heftet eine Fotokopie ihres Personalausweises an. Damit sind die Formalitäten erledigt. Zuerst 300000 und später eine Million Bürger aller Altersstufen sollen Mitglieder der Reserve werden. Handgeschriebene, an Rathäusern ausgehängte Aufrufe fordern die Amigo Reservista auf, sich an bestimmten Tagen zum Training einzufinden, in Uniformhosen und schwarzen Stiefeln, »falls ihr welche habt«.
In der Bolivarischen Universität sind Antiimperialismus und die Umwandlung Venezuelas im Geist der Revolution vollends institutionalisiert. Die Hochschule wurde vor drei Jahren gegründet. Ihr Zweck, erklärt Jesús Pacheco, sei es, der nächsten Generation die politische und ideologische Erziehung zuteil werden zu lassen, die von dem bolivarischen Projekt ausströme. Was »bolivarisch« genau bedeutet, kann der 49-jährige Jurastudent, der elf Jahre wegen Mordes im Gefängnis saß, bevor er sein Studium aufnahm, nicht genau sagen. Er weiß nur so viel: »Es sind die Vorstellungen unseres Präsidenten, die auf dem Denken unseres Freiheitshelden Simón Bolivar basieren.« Aufnahmeprüfungen gibt es nicht, »Inklusivität« ist das oberste Gebot. 180000 Studenten sind bereits eingeschrieben, eine Million sollen es werden, die in Caracas und 190 Außenstellen in Fächern ausgebildet werden sollen, die fast alle mit öffentlicher Verwaltung und so gut wie nichts mit Wissenschaft oder Technik zu tun haben.
Die Universitätsgebäude beherbergten bis vor drei Jahren die Hauptverwaltung des staatlichen Ölkonzerns PDVSA. 20000 politisch unzuverlässige Ingenieure, Geologen, Manager und Geschäftsführer wurden damals entlassen. Seither geht es mit PDVSA bergab. Vor der politischen Säuberung förderte Venezuela täglich 3,4 Millionen Barrel Öl. Jetzt sind es nur noch 2,6 Millionen Barrel, mit einem schrumpfenden Anteil der Staatsfirma – 1,5 Milliarden – und einem wachsenden Anteil ausländischer Multis. Der Grund sind nicht etwa schwindende Vorkommen, sondern das fehlende technische Know-how der PDVSA. Die Financial Times berichtete, dass Venezuela, nominell der fünftgrößte Erdölexporteur der Welt, seit dem Sommer 100000 Barrel Rohöl am Tag für insgesamt 2 Milliarden Dollar in Russland einkauft, um bestehende Verträge zu erfüllen und Konventionalstrafen zu vermeiden.
Dank der Verfünffachung des Ölpreises seit Chávez’ Amtsantritt ist im Alltagsleben von der schrumpfenden Produktion nichts zu spüren. Die Wirtschaft wächst fast so schnell wie in China. Die Börsenkurse stiegen im ersten Halbjahr 2006 um 50 Prozent. Die Einkaufszentren sind rammelvoll. In Restaurants und Bars finden sich hochgestellte Chavistas oft schon zur Mittagsstunde ein, um Flaschen mit 18 Jahre altem schottischem Malzwhisky in atemberaubendem Tempo zu leeren. Der Nobelschneider Giovanni Scutaro, bei dem Chávez seine Anzüge anfertigen lässt, hat eine monatelange Warteliste. Mitglieder der neuen Elite kaufen in der exklusiven Ladenkette Biglidue teure Modeartikel ein.
In der neuen Elite greifen Machtkonzentration, Korruption und Nepotismus um sich. Der für PDVSA verantwortliche Minister ist gleichzeitig Geschäftsführer und Aufsichtsratvorsitzender des Unternehmens, ein Neffe des Präsidenten ist für die Handelsabteilung und die Tankerflotte zuständig. Die alte Elite macht unterdessen glänzende Geschäfte mit dem neuen Regime. Viele Banken verdienen sich eine goldene Nase, vor allem durch den Kauf von Staatsanleihen mit von der Regierung bei ihnen deponierten Einlagen. Der Wirtschaftswissenschaftler Orlando Ochoa glaubt allerdings, der Ölpreis brauche nur um 10 Dollar abzusacken, um dem fröhlichen Treiben ein Ende zu bereiten. Die zugrunde liegenden Wirtschaftsdaten sehen wenig ermutigend aus. Trotz des rapiden Wirtschaftswachstums fiel das Bruttosozialprodukt pro Einwohner aufgrund der Bevölkerungszunahme seit Chávez’ Amtantritt um 4 Prozent. Das Land ist zwar reicher geworden, doch die Menschen sind ärmer.
Vier Stunden Autofahrt westlich von Caracas liegt El Charcote, eine 13000 Hektar große Rinderfarm. Bis vor einem halben Jahr gehörte sie zu den Liegenschaften des englischen Lords Vestey, eines von 14 Landgütern der Familie, die 5 Prozent des Rindfleischbedarfs Venezuelas produziert. Vor fünf Jahren kam Salmaria Quintero mit ihrem Mann, fünf Kindern und einer Gruppe Landbesetzern aus der Provinzstadt Valencia hierher. Ihr Mann, ein Lastwagenfahrer, hatte gehört, dass die Regierung plante, El Charcote zu enteignen. Sie steckten 15 Hektar als ihre Farm ab.
Im März letzten Jahres hatten Campesinos die Ranch zu drei Vierteln eingenommen. Die Regierung erklärte die alte Grundbucheintragung für ungültig. Die Vesteys verloren acht Gerichtsverfahren gegen die Landbesetzung und Enteignung. Sie klagten vor dem internationalen Gerichtshof. Schließlich ließen sie sich auf einen Kompromiss ein. Sie verkauften El Charcote und weitere 43000 Hektar zum Dumpingpreis von 4,1 Millionen Dollar an die Regierung. Im Gegenzug sicherte diese zu, die restlichen im Familienbesitz befindlichen 258000 Hektar Land, immer noch eine Fläche von der Größe des Saarlandes, unangetastet zu lassen.
Die Landreform der Regierung läuft unter dem Namen Misión Zamora. Sie soll »Landbesitz und Nahrungsmittelversorgung demokratisieren, Grund und Boden neu verteilen und zur umfassenden Entfaltung der Organisationen des Bauerntums beitragen«. Oft degeneriert sie zu dreister Korruption. In der Provinz Zaraza wurden von 27 Millionen Dollar, die die Landbank Fundafa als Beihilfe an Neubauern auszahlte, 93 Prozent veruntreut. Chávez ließ den Bürgermeister der Provinzhauptstadt, ein Mitglied seiner »Bewegung der Fünften Republik«, eiskalt abblitzen, als der den Betrug öffentlich anprangerte. In der Partei wird der nun als Konterrevolutionär gedemütigt.
Die Wirklichkeit sieht auch für Salmaria Quintero anders aus, als sie sich das vorgestellt hat. Ihr Haus gleicht einem selbst gebauten Ziegenstall. In fünf Jahren hat sie keinen Cent staatlicher Beihilfe bekommen. Der weitere Familienkreis hat ihrem Mann Geld zum Kauf eines alten Traktors geliehen. Aber auch damit kann er gerade drei Hektar ihres Landes bebauen. Der Rest liegt brach. Ihres Landes? Weder die Quinteros noch die Kooperative, der sie sich jetzt anschließen müssen, werden als Eigner ins Grundbuch eingetragen. Das Land gehört dem Staat. Ambitionen der Bauern, sich mit Bankkrediten selbstständig zu machen, ist ein Riegel vorgeschoben. Sie sind zwangskollektiviert.
Zwar zerbröckeln Chávez’ internationale Träume zum Ende des Wahljahres 2006. Venezuela fand unter den 34 lateinamerikanischen Mitgliedsstaaten der UN nicht einmal genug Unterstützung, um den ihnen zustehenden Sitz im Sicherheitsrat einzunehmen. Doch bei der Wahl im eigenen Land wird er wohl noch einmal triumphieren.
Das Wahlergebnis steht auch deshalb jetzt schon fest, weil die Regierung Listen mit den Namen von Bürgern, die bei einem Referendum 2005 gegen Chávez stimmten, in ihren Besitz brachte. Wer auf den Listen steht, braucht sich um Jobs im öffentlichen Dienst gar nicht zu bewerben.
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