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"NACH DIR, FIDEL"
Serafina
(
gelöscht
)
Details
Was kommt nach dem Tod des grossen Diktators? Ein letzter Besuch auf Castros Insel, bevor der Vorhang fällt.
Diesen Samstag, 28. April 07 DAS MAGAZIN (Beilage Tages-Anzeiger)
Salu2, Serafina
28.04.2007 07:29 (zuletzt bearbeitet: 28.04.2007 07:31)
#2 RE: "NACH DIR, FIDEL"
Text Ruedi Leuthold
Für Touristen und Politnostalgiker ist die Karibikinsel das Paradies der verlorenen Kindheit. Schön für sie – tragisch jedoch für die Kubaner. Unser Mann in Havanna traf Freunde und stellte verbotene Fragen.
Die meisten Namen im folgenden Bericht sind, wie man verstehen wird, falsch. Wahr ist, dass ich verliebt war in Kuba, wahr ist, dass ich mich mit jedem Besuch auf der Insel mehr anstrengen muss, damit die Liebe nicht in etwas anderes umschlägt, Zynismus oder Bitterkeit. Das gelingt nur dank den Menschen, die in diesem Bericht einen falschen Namen tragen. Es sind meine Freunde. Einige von ihnen habe ich besucht, um zu erfahren, wie die Stimmung ist im Lande, jetzt, wo Fidel Castro auf dem Sterbebett liegt, der Máximo líder, Führer und Kopf der Kubanischen Revolution.
Mein erster Besuch in Kuba fand Mitte der Achtzigerjahre statt. Für eine Jugendzeitschrift sollte ich eine Reportage schreiben über das Befinden der Jugendlichen auf der kommunistischen Insel. Ich bestellte auf der Botschaft Kubas in Bern ein Journalistenvisum. Um es zu erhalten, musste ich angeben, welche Fragen mich interessierten. Was die Jugend von der Politik hält, schrieb ich.
Wenige Tage später bekam ich einen Anruf von René Burri, dem berühmten Fotografen, der das zweitberühmteste Bild von Che Guevara geschossen hat. René Burri sollte die Bilder machen zu meinem Bericht. In Wahrheit war es so, dass der Fotograf auf Einladung des kubanischen Tourismusministeriums einige Wochen lang durch Kuba reiste, und davon würden einige Bilder für meine Reportage abfallen. Was bist du nur für ein Arschloch, schimpfte der Fotograf, ein Riesenarschloch, und dann wiederholte er es auch noch auf Französisch, denn der Künstler lebte damals in Paris: un trou de cul.
So lernte ich, dass man in Kuba über Politik besser nicht redet. Und ich lernte, dass man über Kuba nicht reden kann, ohne dass sich Leute, die ihr Leben sonst mit Vernunft und Verstand meistern, in unberechenbare Feuerwerkskörper verwandeln, fähig, vor deiner Nase zu explodieren oder bunte Sterne in den Himmel zu gaukeln. Auf der kubanischen Botschaft hatte mich ein Angestellter angesprochen, ob ich nicht ein kleines Paket für seine Familie mit nach Havanna mitnehmen könnte. Das kleine Paket stellte sich als mittelschwerer Koffer heraus. Dafür holte mich die Mutter des Mannes am Flughafen ab und fuhr mich in ihrem Lada, der sie als hohe Parteifunktionärin auswies, durch die Stadt. Leider, sagte sie, als sie erfuhr, worüber ich schreiben sollte, gibt es unter den Jugendlichen viele, die nur dem westlichen Materialismus nachrennen. Die träumen bloss von etwas: Jeans.
Diese Leute nennen wir Abfall. Dreck. Scheissefresser.
Die Frau wusste nicht, dass ich mir erlaubt hatte, den Inhalt des Koffers anzusehen. Er war voller Jeans. Für die Reportage wurde mir ein Chauffeur zur Seite gestellt und, obwohl bis dahin alle Verhandlungen auf Spanisch geführt worden waren, auch eine Dolmetscherin. Beide musste meine Zeitschrift in Devisen bezahlen.
Wir besuchten die Isla de la Juventud, und ich hatte Gelegenheit, einen jungen Kommunistenführer zu interviewen. Ich vermied es, von Politik zu sprechen. Ich fragte ihn, wie Kuba zu den Schwulen steht. Hör mal, sagte er, die Partei hat nichts gegen Schwule, aber wenn ich persönlich einen treffe, dann kannst du sicher sein, dass ich ihn grün und blau schlage. Die Dolmetscherin übersetzte nicht.
Keiner mehr da
Obwohl ich auf der ganzen Reise bestens behütet gewesen war, bestand das Sicherheitspersonal bei der Abreise auf eine genaue Inspektion meiner Koffer. Einer der Beamten war neugierig genug, um mein Tonbandgerät einzuschalten. Er erstarrte. Ich erstarrte ebenfalls, und es dauerte eine Weile, bis ich mir einen Reim auf die ganze Angelegenheit machen konnte. Die Dolmetscherin hatte mir, als Abschiedsgeschenk oder als Zaubermittel für eine baldige Wiederkehr, ihr Liebesgeflüster aufgenommen. Wobei Geflüster in ihrem Fall kaum das richtige Wort ist, und ich war bloss froh, dass die Mikrofone nicht eingeschaltet waren. Denn der Flughafen José Martí in Havanna war damals ein kleiner Provinzladen, und mein Koffer wurde dort durchsucht, wo ein Genosse die ankommenden und wegfliegenden Maschinen ankündigte.
So verliebte ich mich in Kuba.
In der Folge reiste ich nie wieder mit einem Journalistenvisum nach Kuba, nur als Tourist, und vielleicht hat es damit zu tun, dass ich viel mehr in Kontakt kam mit dem Dreck, dem Abfall, den Scheissefressern – und dort meine Freunde fand. Auch wenn ich immer wieder Leute traf, die mit Begeisterung und Kampfeslust an die Feindschaft mit dem mächtigen Nachbarn erinnerten, die ethische Überlegenheit der revolutionären Ideen verteidigten und alle Probleme als vorübergehende Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer besseren, solidarischen, glücklicheren Zukunft abtaten.
Aber von diesen Freunden, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Sportlern, ist keiner mehr in Kuba. Irgendwann waren sie alle weg, verschwunden, und später vernahm ich, dass sie in Spanien in einer Bar arbeiteten, in Mexiko im Bücherhandel tätig waren oder in Miami in der Antirevolutionsindustrie. Aber die andern, die Scheissefresser, sie blieben, immer bereit, für die Revolution auf die Strasse zu gehen, wenn die Partei es verlangte. Vielleicht fand sich ja jemand, der ein Paar Jeans verkaufte, einen Pneu oder auch nur ein Fläschchen Ketchup.
Und so traf ich nach drei Jahren meinen Freund Carlos wieder, und als Erstes unternahmen wir eine kleine Spazierfahrt in seinem Ford Farlane, Jahrgang 1956, fast so alt wie ich.
Denn Kuba ist, und das sollte man wissen, um zu verstehen, warum die Leute Herzraserei kriegen, wenn von Kuba die Rede ist, ein Paradies der verlorenen Kindheit, Autos wie Spielzeuge, das Lebenstempo einer Spazierfahrt am Sonntag, im Schaufenster nur das Notwendigste, wache Menschen mit viel Zeit, mit Musik in den Füssen, mit Witz und unzähligen unbekannten Schimpfwörtern auf der Zunge, es ist wie der Besuch bei einem armen Verwandten. Man bewundert den wohlerzogenen Nachwuchs, das bescheidene Heim, aber alles sauber, und man möchte besser nicht wissen, mit welchen Mitteln der Hausherr seine Brut bändigt. Umso weniger, wenn der Patriarch im Sterben liegt. Ist er nicht vielleicht doch, alles über allem betrachtet, ein Heiliger?
Wir schaukelten im Amischlitten durch die engen Strassen im Zentrum von Havanna, wo mein Freund Carlos König ist. Virtudes, Neptuno, Galeano, Reyna, keine Strassenecke, wo er nicht jemanden grüsste, ein hübsches Mädchen, ihren Zuhälter, den Polizisten, dem er eine Flasche Rum gezahlt hat, weil er, wie er mir jetzt gestand, seit
einem Jahr ohne Führerschein ist. Und er las die geheimen Zeichen, die nur für den Eingeweihten eine Bedeutung haben in der brüchigen, grauen Stadt, in der niemand rasch geht, niemand langsam, weil es wichtig ist, nicht aufzufallen, so viele Frauen im Dollarladen, bestimmt ist das Parfüm angekommen, das für 3.50 Dollar verkauft wird, und ein paar Matrosen haben Schmuggelware gebracht, siehst du nicht Rosita an der Ecke, ihre prall gefüllte Tasche, und der Tankwart hebt den Daumen, und wenn Carlos abends zurückkommt, dann verkauft er ihm das Benzin, das er tagsüber abgezweigt hat, zur Hälfte des Preises.
Nichts hatte sich verändert in Havanna, nur trug Carlos jetzt einen blendenden Goldzahn, den ihm ein Zahnarzt für 80 Dollar besorgt hatte. Und in der Altstadt von Havanna waren, von der Unesco finanziert, einige Strassenreihen mehr restauriert worden, sehr schön, sehr malerisch, Touristengebiet, eine Zone, die jetzt von Carlos gemieden wird, weil er dort, unter dem Verdacht, mit Touristen anzubändeln, jederzeit verhaftet werden kann.
Denn in Kuba, wo der Fremdenverkehr, neben dem Verkauf von Nickel an die Chinesen, noch die einzige verlässliche Einnahmequelle ist, herrscht ein pittoresker Kleinkrieg zwischen dem Staat und seinen Bürgern um die Dollars der Touristen – der Staat kämpft gegen illegale Zigarrenverkäufer, illegale Taxifahrer, illegale Fressbuden, illegale Unterkünfte, und der Kampf ist vergebens, weil die Kubaner beides sind, Staatsangestellte und Bürger, und weil sie als Bürger all das versetzen und verraten, was sie als Staatsangestellte herstellen und schützen. Mit anderen Worten: Man muss, wie Carlos, ein paar gute Freunde an der richtigen Stelle haben. Und dann ist alles nur noch eine Frage des Geldes. Ausser, natürlich, es geht um Regimekritik. Da hört der Spass auf.
Neu war auch, dass neben den riesigen Plakaten von Che Guevara und Fidel Castro jetzt auch Hugo Chavez überlebensgross auf die Stadt hinunterlächelte, der kleine Möchtegern-Revolutionär, der mit 108 000 Fass billigen Öls dem Regime täglich Sauerstoff und frischen Mut verschafft.
Und neu war, dass Carlos jetzt auch über Kabelfernsehen verfügte. Denn es gibt erfindungsreiche Leute, die mithilfe von Metallplatten, galvanisiertem Zink und einer Schweissanlage Satellitenschüsseln produzieren. Eine solche Anlage kostet auf dem Schwarzmarkt 400 Dollar, der Käufer versteckt sie in einem Wassertank auf dem Dach, legt Kabel zu den Nachbarn und lässt sich monatlich 10 Dollar bezahlen für den Zugang zu all jenen verbotenen Sendern, welche die Touristen in den Hotels ohne Weiteres konsumieren können.
Carlos wohnt, zusammen mit seiner Freundin, in einer winzigen Wohnung im zweiten Stock eines heruntergekommenen Bürgerhauses an der Strasse des heiligen Josef. Es ist ein hohes Zimmer, in das er auf eigene Kosten eine Zwischendecke und eine Treppe eingebaut hat. Das Zimmer kostete ihn 3000 Dollar, und 1000 musste er an Schmiergeld aufbringen, um die Dokumente zu fälschen, die ihn erst verheirateten, dann wieder schieden und ihn schliesslich als legitimen Eigentümer auswiesen. Der Immobilienhandel ist verboten, der Tausch innerhalb der Familie erlaubt. Den Zement für die Umbauarbeiten wurde von den Renovierungsarbeiten der Altstadt abgezweigt; ich weiss es, denn ich stand Schmiere, als die Transaktion stattfand, der ganze Bautrupp war daran beteiligt, vom Wachmann bis zum Meister, sie verkauften den 50-Pfund-Sack zur Hälfte des Ladenpreises und besserten damit ihren Monatslohn ein bisschen auf, der zwischen 8 und 12 Dollar beträgt.
Unterwegs im Schatten
Also, Kumpel, sagte ich, als wir in seinem Zimmerchen sassen, erzähl, was ist los in Kuba?
Siehst du nicht, was los ist, antwortete mein Freund. Schau dir bloss meinen Fussboden an, und dann weisst du, was los ist; so abgeschabt, dass die nackte Mauer zum Vorschein kommt. Meine Frau verzweifelt schon, je mehr sie putzt, umso dreckiger wird er.
Komm schon, Carlitos, du kennst die Strasse wie kein anderer, ich will wissen, wie es den Leuten geht.
Er zog die Sonnenbrille von den Augen, sein Goldzahn blitzte, er holte Luft, und noch einmal, und dann sagte er: Die Leute haben Schiss, stöhnte er.
Wovor?
Wovor denn! Sie haben Schiss davor, dass Fidel stirbt. Warum?
Sie glauben, nur er kann sie beschützen? Wovor beschützen?
Vor dem, was kommt.
Am 31. Juli 2006, abends um 19.40 Uhr, verlas sein Sekretär am Fernsehen Fidel Castros Ankündigung, er werde sich einer Operation unterziehen und die Amtsgeschäfte, zum ersten Mal seit 1959, seinem Bruder Raúl übergeben. Seitdem schwebt der Revolutionsführer zwischen Auferstehung und Himmel, und in- und ausserhalb des Landes wird spekuliert, was nach seinem schon oft von den Feinden forcierten, schon oft vergeblich angekündigten Ableben in Kuba geschehen wird.
In den nächsten Tagen unternahmen wir zahlreiche Ausflüge in die verbotenen Zonen der kubanischen Seele, wir sprachen über Politik, wir sprachen mit Dissidenten, und wir hielten Ausschau nach Keramikplatten für den Fussboden von Carlos’ Stube.
Seit der Liebschaft mit der Dolmetscherin besitze ich, in aller Ehrlichkeit gesagt, eine gewisse Übung darin, mich im Schatten der kubanischen Legalität zu bewegen, also dort, wo sich die Mehrheit der Bevölkerung aufhält. Damals brachte ich, im Auftrag meiner Freundin, Taschen voller Epa-Damenunterwäsche nach Kuba, die sie zur Hälfte des Preises, der für das Zeugs auf dem Schwarzmarkt bezahlt wurde, verkaufte. Sie erstand sich aus dem Erlös ein Zimmer in der Wohnung eines Genossen, in der ich bei meinen weiteren Besuchen übernachtete; damals hielt noch die Sowjetunion ihre schützende Hand über die Insel, die Nachbarn hielten mich für einen Russen und behandelten mich mit einer Ehrerbietung, die mir seither nie mehr zuteil wurde.
Die Geschichte endete damit, dass der Besitzer der Wohnung, verdientes Mitglied der Kommunistischen Partei, im Vollrausch in eine Hauswand raste. Die Dolmetscherin wurde in die Provinz strafversetzt, später heiratete sie einen ungarischen Konsul, der sie zu Hause in Budapest in der Wohnung einsperrte, während er sich in den Bars herumtrieb, sie floh nach Madrid, wo sie ein Jahr lang illegal lebte, bis sie mit einem norwegischen Schiffsfunker nach Oslo zog.
Wovor haben die Leute Angst?, fragte ich Carlitos, als wir in unserem alten Ford losfuhren.
Sie haben Angst vor der Rache der Exilkubaner in Miami. Sie haben Angst davor, dass die in ihre alten Häuser zurückkehren wollen.
Weisst du, sagte ich, dass nur gerade 10 Prozent der Kubaner, die in den USA leben, wieder auf die Insel zurückkehren wollen? Das zeigen Umfragen, die in Miami gemacht wurden. Und die wollen keine alten Häuser besetzen, sondern Geschäfte machen. Und weisst du, was noch viel wichtiger ist: Die Regierung der USA wird schon aus eigenem Interesse versuchen, die alten rachsüchtigen Exilkubaner zu bremsen. Denn am meisten fürchtet sie sich vor einem Chaos mit einer Massenflucht von einer Million Scheissefressern an ihre Küste.
Carlos lachte. Das leuchtet mir ein, sagte er.
Dann fuhren wir in den Stadtteil Marianao, um zu hören, was Pancho von der Situation hält. Pancho ist ein gross gewachsener Mulatte, Baseballfan und Rundfunkreporter mit vielerlei Kontakten, und wir erfuhren, dass er einen neuen Nebenerwerb gefunden hat, um das Notwendige für seine vier Kinder aufzubringen. Er besitzt eine Digitalkamera und fotografiert damit Kubanerinnen, die für ein Nacktfoto, das von einem Spanier ins Internet gesetzt wird, 20 Dollar bekommen. Der Andrang, verriet er, sei gross. Er wirkte geknickt wie ein geschlagener Boxer.
Du weisst, sagte er, all die grossen Worte wie Ehre, Stolz und Würde sind in Kuba verstaatlicht. Die Regierung braucht sie in ihrem titanischen Kampf gegen die imperialistischen Feinde.
Und sonst, Pancho?
Und sonst wird hier kurzfristig gar nichts passieren, wenn Fidel stirbt. Raúl Castro hat den Laden im Griff, das haben alle gesehen in den letzten Monaten.
Und langfristig?
Das möchten alle wissen. Und niemand weiss es.
Razzia wegen Parabolantennen
Das Gleiche sagte meine Freundin Ana-Paula, Bibliothekarsgehilfin, laut ihrer eigenen, unvergessenen Aussage «der schwarze Engel, den Gott zu schaffen vergessen hat». Ana-Paula verdient 8 Dollar im Monat, sie bezahlt eine Miete von 50 Dollar, und um sie begleichen zu können, versetzt sie hin und wieder ein Exemplar aus den Beständen der Universitätsbibliothek, für das die Archivare auf der Strasse Interesse zeigen.
Das Gleiche sagt meine Freundin Margarita, seit zwanzig Jahren Buchhalterin in der Stadtverwaltung, seit zwanzig Jahren damit beschäftigt, die Statistiken von Produktionsbetrieben nachzuführen, von denen sie weiss, dass sie alle gefälscht sind, weil der institutionalisierte Diebstahl unter Mängel, Ausschuss und Transportschaden aufgeführt ist.
Margarita ist die Einzige meiner Freunde, die nicht lügt, nicht klaut, nichts erfindet, um ihr Salär ein bisschen aufzubessern. Sie ist vierzig und unverheiratet; sie wohnt in einem Häuschen in der Altstadt und ist überzeugt, dass alle Männer, die sich für sie interessieren, es nur auf ihr Zuhause abgesehen haben.
Was immer nach Fidel kommt, sagte sie, für die Leute, die vom Kommunismus leben, wird es schwierig werden. Warum sagst du das, Margarita?
Weil die nicht wissen, was es heisst, zu arbeiten.
Am andern Tag zog der Quartierpolizist durch die Strasse und kontrollierte die Fernsehgeräte in den Wohnungen, um zu sehen, ob illegale Sender zu empfangen waren. Da der Besitzer der Parabolantennen gewarnt gewesen war, hatte er seinen Dienst vorher eingestellt, und niemandem wurde das Gerät konfisziert. Aber wenige Tage später wurde in der Regierungszeitung «Granma» gross über die Verhaftung eines Herstellers von Parabolantennen berichtet. Im Bericht hiess es, die USA würden wöchentlich über dreissig Sender 2306 Stunden Radio- und TV- Sendungen ausstrahlen, als Teil des Planes der Regierung Bush, die Revolution zu zerstören und die kubanischen Werte. Die Programme aus dem Ausland seien kulturell entfremdend, subversiv und mischten sich in die inneren Angelegenheiten Kubas. Eine kurze Umfrage bei Carlos’ Nachbarn ergab folgende Rangliste in der Beliebtheit der ausländischen Sender:
1: der Comicsender,
2. Discovery-Channel auf Spanisch,
3. TVE – das spanische Fernsehen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir auch schon die Bodenplatten für Carlos’ Stubenboden gefunden; der Direktor eines Dollarladens verkauft die Kisten, die er abgezweigt hatte, anderthalb Quadratmeter, für 11 Dollar statt für 24.50, wie sie in seinem Geschäft kosteten.
Dann fuhren wir in einen Vorort von Havanna, es war Mittag, die Sonne warf harte Schatten, wir schepperten durch die Strassen, in der niemand zu schnell ging, niemand zu langsam, was der Stadt etwas Lauerndes gab, als ob im alten Gemäuer Gefahren herrschten, von denen nur die Bewohner ahnten. In Pocitos de Mariano waren die Häuser aus Blech und Holz, und ein Ochsengespann musste unsere Wagen aus einem versumpften Strassenstück ziehen. Wir hatten Glück, und Rodrigo war zu Hause, ein Hexenmeister der afrokubanischen Religionen, ursprünglich Schreiner, doch seit immer mehr Venezolaner herkommen, um sich unter den Schutz der Götter zu stellen, verdient er genug mit seiner Tätigkeit als Mittelsmann zu den Orishas.
Ich stellte eine Flasche Rum auf den Tisch und bat den Babalao, mir mithilfe seiner Meeresschnecken die Zukunft Kubas zu lesen.
Das haben wir Anfang des Jahres getan, antwortete er, und ich kann dir eines sagen: Nichts wird geschehen.
Nichts?, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. Letztes Jahr wurde der Tod eines wichtigen Politikers vorausgesagt und ist auch eingetreten. Er musste einen Moment studieren, bis ihm der Name einfiel: Pinochet, im Dezember.
Aber dieses Jahr? Er machte eine Pause, nahm einen mächtigen Schluck aus der Flasche: Nichts, meine Freunde, kein Tod ist in Sicht. Wir hatten Rodrigo beim Essen angetroffen, und als er jetzt den Teller in die Küche zurückbrachte, warf er einen angenagten Hühnerknochen in eine Badewanne im Flur.
Was tut er da?
Er füttert seinen Kaiman, sagte Carlos. An die Wand war gross ein Auge gemalt, durchbohrt von einem roten Pfeil.
Als Rodrigo zurückkehrte, lachte er. Ich möchte ihn ja sehen, sagte er, wie er plötzlich alles tut, was ihm seine Ärzte sagen. Ich möchte ihn sehen, wie er zum ersten Mal in seinem Leben auf einen anderen Menschen hört.
Denn das alles passiert ihm nur, weil er nie auf jemanden anderen gehört hat, sagte der Babalao, plötzlich wieder ernst. Aber am Ende ist er nicht. Der kommt wieder, das sage ich euch. So ein Teufel ist das, unser Präsident Fidel Castro.
Schutzlos vor der Geschichte
Zurück in Havanna, auf der Galeano, ging das Benzin aus. Während Carlos ein Velotaxi nahm, um den Kanister zu füllen, zog ich meine Kamera hervor, um ein Bildchen zu machen vom grünen Ford Farlane, wie er dastand mit geöffneter Motorhaube, schläfrig wie ein Krokodil am Flussufer.
Immerhin war der alte Schlitten schon für die Polizei des Diktators Batista im Einsatz gestanden, und auf dem Fussboden des Hintersitzes befand sich noch die Eisenhalterung, an der die verhafteten Kriminellen mit Handschellen gesichert wurden – damals mit Sicherheit auch die Studenten, die für die bärtigen Guerilleros in der Sierra Maestra auf die Strasse gingen.
Es war nicht ohne Ironie, dass wir mit diesem keuchenden Instrument der Repression eben bei dem Dissidenten Elisardo Sanchez vorgefahren waren, der uns vorgerechnet hatte, dass Kuba 1958 vierzehn Gefängnisse zählte mit 7000 Insassen, während heute 80 000 Gefangene in zweihundert Anstalten sitzen, darunter 270 politische Gefangene. Sanchez hat selber über acht Jahre im Gefängnis gesessen, sein Haus wurde neunmal von der Staatssicherheit auf den Kopf gestellt, doch er sagte: Kuba braucht Versöhnung, keine Rache. Kuba dürstet nach Veränderungen, und bis in die höchste Parteispitze hinauf wissen alle, dass sich etwas bewegen muss.
Wird sich etwas bewegen?
Ich bin skeptisch. Bis jetzt war es Fidel, der sich gegen jede Art von Öffnung gewehrt hat. Aber Raúl hat die gleichen Gründe wie er, nichts zu verändern.
Welche Gründe?
Die Angst, dass ein Prozess der Lockerung aus dem Ruder läuft. Und dass sie plötzlich schutzlos dastehen vor der Geschichte und sich für ihre Handlungen verantworten müssen.
Dieses Regime hat, man sollte es nicht vergessen, etwa 5000 Leute füsilieren lassen.
Und plötzlich war Aufregung in der schläfrigen Stadt, ein gross gewachsener Mensch stürzte sich auf mich, entriss mir die Kamera, ich rannte ihm über zwei Blöcke nach, schrie wie ein Blöder «Dieb! Dieb!», mindestens fünfzig Leute waren Zeuge, niemand rührte sich.
Als Carlos zurückkam, war er sehr empört, dass so etwas ausgerechnet in seinem Viertel geschah, und er fragte die Leute, ob sie den Dieb erkannt hätten. Niemand hatte ihn erkannt, aber alle verteidigten nun den Umstand, dass sie nicht eingegriffen hatten, mit den folgenden Argumenten:
1. Warum sollte ich einer Polizei helfen, die eh nur da ist, um die Bevölkerung zu schikanieren?
2. Der Dieb könnte einen bewaffneten Komplizen haben, und wer will schon einen Messerstich einfangen für einen Gringo, der
3. einem unter Umständen nicht mal 50 Dollar gibt für die Hilfeleistung oder, schlimmer noch, den Helfer des Diebstahls beschuldigt, weil
4. für die Gringos alle Schwarzen gleich aussehen und sie nicht fähig sind, den einen Scheissefresser vom andern zu unterscheiden.
Um nach Pinar del Rio zu reisen, 120 Kilometer westlich von Havanna, mietete ich ein Auto. Carlos kannte ein privates Restaurant in einem Naturpark nahe der Stadt, wo man für 5 Dollar Langusten essen konnte. Dort angelangt, erfuhren wir, dass das Wirtepaar wegen des illegalen Verkaufs von Staatseigentum (Langusten) im Gefängnis sass. Aber, sagten die Nachbarn, auch wir bieten Langusten an.
Keine Angst vor dem Gefängnis?, fragte ich.
Risiko, sagte die Frau mürrisch und verschwand in der Küche.
Wir übernachteten in einer privaten Unterkunft. Die Kinder der Vermieter waren alle in den USA, die Älteste über die Heirat, der zweite dank einer Green Card, und der Jüngste war vor Monaten mit einem Boot geflohen, 10 000 Dollar kostete es, die Geschwister bezahlten.
Für einen Dollar bewachte ein 73-jähriger Mann das Auto, für das es keinen Unterstand gab. Als Erstes klappte der Alte, erfahren im Wächteramt, die Aussenspiegel ein. Andernfalls, klagte er, würden die Jungs auf dem Velo vorbeirasen und dem Gefährt mit der Machete die Ohren abschlagen. Die Leute tun alles für einen Dollar, sagte der Alte. Schau nur mich an.
Ich schlief ein mit dem Bild dieses apokalyptischen Reiters, der auf dem Velo durch die Strassen braust und mit wütenden Säbelhieben parkierte Autos amputiert. Später sah ich, dass die abgeschlagenen Teile von den Fahrradtaxis als Rückspiegel benützt werden.
Was dann?
In Pinar del Rio besuchte ich Dagoberto Valdez, der am Bischofssitz eine kirchliche Zeitung herausgibt, die einzige geduldete Schrift in Kuba, die nicht die Meinung der Regierung weitergibt. Dafür allerdings stand der ausgebildete Ingenieur unter Hausarrest und musste, statt in seinem Beruf zu arbeiten, zehn Jahre lang die Plätze und Strassen der Stadt putzen. «Alle spüren», schrieb Dagoberto in der jüngsten Ausgabe von «Vitrai», «dass etwas zu Ende geht.
Und alle spüren, dass sich nichts verändert.» Er schrieb von der Angst und Unsicherheit, die in der Bevölkerung herrschen. Ohne den Namen Fidel Castros zu nennen, schrieb er von der «Kultur des Taubennests», die dort entsteht, wo sich alle Hoffnung und alle Macht in einem Caudillo versammelt, in einem Messias. Keiner lernt zu fliegen, keiner wagt es, eine Reise auf eigene Faust zu unternehmen, alle warten mit geöffnetem Schnabel und leerem Kopf, dass ihnen alles vorgekaut und erklärt wird, «eine Kultur der kindlichen Abhängigkeit, des gütigen Paternalismus», schrieb Dagoberto, «die zwar wenig gibt, gerade genug zum Leben, die aber das verschafft, was sich alle wünschen: Geborgenheit und Sicherheit». Aber, schrieb er weiter: «Wir alle wissen, dass es keine messianischen Sicherheiten gibt, wir alle wissen, dass alles vorbeigeht und alles anders wird.»
Was wird anders werden in Kuba?, fragte ich den Autor der Zeilen. Vielleicht machen es die Demütigungen, die bis heute anhalten, vielleicht ist die Nähe zu all den kirchlichen Würdenträgern daran schuld, aber Dagoberto Valdez bewegt sich wie ein gelernter Pfarrer, den Kopf gebeugt, die Hände gefaltet, ein Lächeln des Duldens und der ewigen Bescheidenheit auf den Lippen. Erst wenn er spricht, spürt man die Kraft und Klarheit, die Dagoberto Valdes zu einer der wichtigsten oppositionellen Stimmen im Land machen.
Kurzfristig ändert sich nichts, sagte er. Fidel Castros Krankheit hat dem Regime eine wunderbare Gelegenheit gegeben, den Machtwechsel zu üben.
Talibane der Karibik
Mittel- und langfristig gibt es diese drei Szenarien:
1. Das Regime führt eine Wirtschaftsreform durch, erlaubt den Privatbesitz, und in der Folge erlauben politische Reformen ein Mehrparteiensystem.
2. Venezuela wird zum neuen grossen Bruder Kubas, der das System unterstützt, wie es früher die Sowjetunion tat. Das würde die Wirtschaftskrise verstärken und das Land noch mehr isolieren.
3. Es gibt einen internen Machtkampf, in dessen Folge Kriminalität und Gewalt zunehmen und es zu einem massiven Exodus aus Kuba kommt.
Und dann zählte Dagoberto Valdes die verschiedenen Gruppierungen auf, die unterschiedliche Interessen haben und die gegenüber Raúl Castro nicht die gleiche Gefolgsbereitschaft aufbringen wie gegenüber Fidel.
Einerseits die alten Kommandanten, die noch in der Sierra Maestra gekämpft haben, alle über siebzig. Andererseits die Offiziere, die an russischen Akademien ausgebildet wurden und in Angola gekämpft haben. Einerseits die wirtschaftlichen und diplomatischen Technokraten, andererseits Fidel Castros ideologischen Wachhunde, «Talibane» genannt, und zu denen Felipe Perez Roque zählt, der Aussenminister.
Was ist das wahrscheinlichste Szenario, Dagoberto? Ich bete für Nummer eins. Am Schlimmsten für Kuba wäre Nummer drei.
Als wir nach Havanna zurückfuhren, lagen im Kofferraum sechs blutige Pakete und, falls jemand den Wagen durchsuchen sollte, einige Jahre Gefängnis – wenigstens für die einheimischen Beteiligten.
Carlos hatte über dunkle Kanäle sechs Jutias gekauft, Nagetiere, die es nur auf den Karibischen Inseln gibt und die auf Bäumen und Felsen leben; der Jäger hatte sie mit Hunden gejagt und mit einer selbst gefertigten Schrotpistole geschossen.
Gehen wir zu Mama Francisca, sagte ich.
Mama Francisca ist die Seele Kubas. Als Fidel Castro Batista verjagt hatte, war sie ein junges Mädchen und zog für zwei Jahre in die Berge, um die Bauern zu alphabetisieren. Sie war auch Karnevalskönigin, mit ihren siebzig Jahren ist sie immer noch eine leidenschaftliche Tänzerin, und für ihre revolutionären Verdienste hat sie auch ein Häuschen bekommen, irgendwo am Meer, wo sie manchmal ein Zimmer vermietet.
Und natürlich gab es ein grosses Hallo, und ohne lang zu fragen, warf Mama Francisca das Getier in die Pfanne und erzählte von ihrem Besuch in Deutschland, wo sie ihren Sohn besucht hatte, der eine Deutsche geheiratet hat.
Den Schnee habe ich berührt, jubelte sie, und auf einem Berg war ich, ein Tritt mehr, und ich hätte den Himmel berührt, und meine ganze Farbe ist mir abhandengekommen, rief sie, diese ganze knusprige Mulattin, die vor dir steht, wurde ganz weiss, und wie war ich froh, nach Kuba zurückzukommen.
So erzählte sie, und das Tier schmeckte nicht schlecht, obwohl es aussah wie eine grosse Ratte, und als ich sie fragte, wie das hier alles weitergehen wird, wenn Fidel Castro stirbt, sagte sie:
Dann bricht das alles zusammen.
Wie meinst du das? Denkst du an einen Aufstand?
Hör auf, du Dummkopf. In den Köpfen bricht alles zusammen. Danach muss keiner kommen und etwas von Revolution und Sozialismus erzählen. Kein Mensch glaubt mehr daran.
http://www.dasmagazin.ch/
Für Touristen und Politnostalgiker ist die Karibikinsel das Paradies der verlorenen Kindheit. Schön für sie – tragisch jedoch für die Kubaner. Unser Mann in Havanna traf Freunde und stellte verbotene Fragen.
Die meisten Namen im folgenden Bericht sind, wie man verstehen wird, falsch. Wahr ist, dass ich verliebt war in Kuba, wahr ist, dass ich mich mit jedem Besuch auf der Insel mehr anstrengen muss, damit die Liebe nicht in etwas anderes umschlägt, Zynismus oder Bitterkeit. Das gelingt nur dank den Menschen, die in diesem Bericht einen falschen Namen tragen. Es sind meine Freunde. Einige von ihnen habe ich besucht, um zu erfahren, wie die Stimmung ist im Lande, jetzt, wo Fidel Castro auf dem Sterbebett liegt, der Máximo líder, Führer und Kopf der Kubanischen Revolution.
Mein erster Besuch in Kuba fand Mitte der Achtzigerjahre statt. Für eine Jugendzeitschrift sollte ich eine Reportage schreiben über das Befinden der Jugendlichen auf der kommunistischen Insel. Ich bestellte auf der Botschaft Kubas in Bern ein Journalistenvisum. Um es zu erhalten, musste ich angeben, welche Fragen mich interessierten. Was die Jugend von der Politik hält, schrieb ich.
Wenige Tage später bekam ich einen Anruf von René Burri, dem berühmten Fotografen, der das zweitberühmteste Bild von Che Guevara geschossen hat. René Burri sollte die Bilder machen zu meinem Bericht. In Wahrheit war es so, dass der Fotograf auf Einladung des kubanischen Tourismusministeriums einige Wochen lang durch Kuba reiste, und davon würden einige Bilder für meine Reportage abfallen. Was bist du nur für ein Arschloch, schimpfte der Fotograf, ein Riesenarschloch, und dann wiederholte er es auch noch auf Französisch, denn der Künstler lebte damals in Paris: un trou de cul.
So lernte ich, dass man in Kuba über Politik besser nicht redet. Und ich lernte, dass man über Kuba nicht reden kann, ohne dass sich Leute, die ihr Leben sonst mit Vernunft und Verstand meistern, in unberechenbare Feuerwerkskörper verwandeln, fähig, vor deiner Nase zu explodieren oder bunte Sterne in den Himmel zu gaukeln. Auf der kubanischen Botschaft hatte mich ein Angestellter angesprochen, ob ich nicht ein kleines Paket für seine Familie mit nach Havanna mitnehmen könnte. Das kleine Paket stellte sich als mittelschwerer Koffer heraus. Dafür holte mich die Mutter des Mannes am Flughafen ab und fuhr mich in ihrem Lada, der sie als hohe Parteifunktionärin auswies, durch die Stadt. Leider, sagte sie, als sie erfuhr, worüber ich schreiben sollte, gibt es unter den Jugendlichen viele, die nur dem westlichen Materialismus nachrennen. Die träumen bloss von etwas: Jeans.
Diese Leute nennen wir Abfall. Dreck. Scheissefresser.
Die Frau wusste nicht, dass ich mir erlaubt hatte, den Inhalt des Koffers anzusehen. Er war voller Jeans. Für die Reportage wurde mir ein Chauffeur zur Seite gestellt und, obwohl bis dahin alle Verhandlungen auf Spanisch geführt worden waren, auch eine Dolmetscherin. Beide musste meine Zeitschrift in Devisen bezahlen.
Wir besuchten die Isla de la Juventud, und ich hatte Gelegenheit, einen jungen Kommunistenführer zu interviewen. Ich vermied es, von Politik zu sprechen. Ich fragte ihn, wie Kuba zu den Schwulen steht. Hör mal, sagte er, die Partei hat nichts gegen Schwule, aber wenn ich persönlich einen treffe, dann kannst du sicher sein, dass ich ihn grün und blau schlage. Die Dolmetscherin übersetzte nicht.
Keiner mehr da
Obwohl ich auf der ganzen Reise bestens behütet gewesen war, bestand das Sicherheitspersonal bei der Abreise auf eine genaue Inspektion meiner Koffer. Einer der Beamten war neugierig genug, um mein Tonbandgerät einzuschalten. Er erstarrte. Ich erstarrte ebenfalls, und es dauerte eine Weile, bis ich mir einen Reim auf die ganze Angelegenheit machen konnte. Die Dolmetscherin hatte mir, als Abschiedsgeschenk oder als Zaubermittel für eine baldige Wiederkehr, ihr Liebesgeflüster aufgenommen. Wobei Geflüster in ihrem Fall kaum das richtige Wort ist, und ich war bloss froh, dass die Mikrofone nicht eingeschaltet waren. Denn der Flughafen José Martí in Havanna war damals ein kleiner Provinzladen, und mein Koffer wurde dort durchsucht, wo ein Genosse die ankommenden und wegfliegenden Maschinen ankündigte.
So verliebte ich mich in Kuba.
In der Folge reiste ich nie wieder mit einem Journalistenvisum nach Kuba, nur als Tourist, und vielleicht hat es damit zu tun, dass ich viel mehr in Kontakt kam mit dem Dreck, dem Abfall, den Scheissefressern – und dort meine Freunde fand. Auch wenn ich immer wieder Leute traf, die mit Begeisterung und Kampfeslust an die Feindschaft mit dem mächtigen Nachbarn erinnerten, die ethische Überlegenheit der revolutionären Ideen verteidigten und alle Probleme als vorübergehende Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer besseren, solidarischen, glücklicheren Zukunft abtaten.
Aber von diesen Freunden, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Sportlern, ist keiner mehr in Kuba. Irgendwann waren sie alle weg, verschwunden, und später vernahm ich, dass sie in Spanien in einer Bar arbeiteten, in Mexiko im Bücherhandel tätig waren oder in Miami in der Antirevolutionsindustrie. Aber die andern, die Scheissefresser, sie blieben, immer bereit, für die Revolution auf die Strasse zu gehen, wenn die Partei es verlangte. Vielleicht fand sich ja jemand, der ein Paar Jeans verkaufte, einen Pneu oder auch nur ein Fläschchen Ketchup.
Und so traf ich nach drei Jahren meinen Freund Carlos wieder, und als Erstes unternahmen wir eine kleine Spazierfahrt in seinem Ford Farlane, Jahrgang 1956, fast so alt wie ich.
Denn Kuba ist, und das sollte man wissen, um zu verstehen, warum die Leute Herzraserei kriegen, wenn von Kuba die Rede ist, ein Paradies der verlorenen Kindheit, Autos wie Spielzeuge, das Lebenstempo einer Spazierfahrt am Sonntag, im Schaufenster nur das Notwendigste, wache Menschen mit viel Zeit, mit Musik in den Füssen, mit Witz und unzähligen unbekannten Schimpfwörtern auf der Zunge, es ist wie der Besuch bei einem armen Verwandten. Man bewundert den wohlerzogenen Nachwuchs, das bescheidene Heim, aber alles sauber, und man möchte besser nicht wissen, mit welchen Mitteln der Hausherr seine Brut bändigt. Umso weniger, wenn der Patriarch im Sterben liegt. Ist er nicht vielleicht doch, alles über allem betrachtet, ein Heiliger?
Wir schaukelten im Amischlitten durch die engen Strassen im Zentrum von Havanna, wo mein Freund Carlos König ist. Virtudes, Neptuno, Galeano, Reyna, keine Strassenecke, wo er nicht jemanden grüsste, ein hübsches Mädchen, ihren Zuhälter, den Polizisten, dem er eine Flasche Rum gezahlt hat, weil er, wie er mir jetzt gestand, seit
einem Jahr ohne Führerschein ist. Und er las die geheimen Zeichen, die nur für den Eingeweihten eine Bedeutung haben in der brüchigen, grauen Stadt, in der niemand rasch geht, niemand langsam, weil es wichtig ist, nicht aufzufallen, so viele Frauen im Dollarladen, bestimmt ist das Parfüm angekommen, das für 3.50 Dollar verkauft wird, und ein paar Matrosen haben Schmuggelware gebracht, siehst du nicht Rosita an der Ecke, ihre prall gefüllte Tasche, und der Tankwart hebt den Daumen, und wenn Carlos abends zurückkommt, dann verkauft er ihm das Benzin, das er tagsüber abgezweigt hat, zur Hälfte des Preises.
Nichts hatte sich verändert in Havanna, nur trug Carlos jetzt einen blendenden Goldzahn, den ihm ein Zahnarzt für 80 Dollar besorgt hatte. Und in der Altstadt von Havanna waren, von der Unesco finanziert, einige Strassenreihen mehr restauriert worden, sehr schön, sehr malerisch, Touristengebiet, eine Zone, die jetzt von Carlos gemieden wird, weil er dort, unter dem Verdacht, mit Touristen anzubändeln, jederzeit verhaftet werden kann.
Denn in Kuba, wo der Fremdenverkehr, neben dem Verkauf von Nickel an die Chinesen, noch die einzige verlässliche Einnahmequelle ist, herrscht ein pittoresker Kleinkrieg zwischen dem Staat und seinen Bürgern um die Dollars der Touristen – der Staat kämpft gegen illegale Zigarrenverkäufer, illegale Taxifahrer, illegale Fressbuden, illegale Unterkünfte, und der Kampf ist vergebens, weil die Kubaner beides sind, Staatsangestellte und Bürger, und weil sie als Bürger all das versetzen und verraten, was sie als Staatsangestellte herstellen und schützen. Mit anderen Worten: Man muss, wie Carlos, ein paar gute Freunde an der richtigen Stelle haben. Und dann ist alles nur noch eine Frage des Geldes. Ausser, natürlich, es geht um Regimekritik. Da hört der Spass auf.
Neu war auch, dass neben den riesigen Plakaten von Che Guevara und Fidel Castro jetzt auch Hugo Chavez überlebensgross auf die Stadt hinunterlächelte, der kleine Möchtegern-Revolutionär, der mit 108 000 Fass billigen Öls dem Regime täglich Sauerstoff und frischen Mut verschafft.
Und neu war, dass Carlos jetzt auch über Kabelfernsehen verfügte. Denn es gibt erfindungsreiche Leute, die mithilfe von Metallplatten, galvanisiertem Zink und einer Schweissanlage Satellitenschüsseln produzieren. Eine solche Anlage kostet auf dem Schwarzmarkt 400 Dollar, der Käufer versteckt sie in einem Wassertank auf dem Dach, legt Kabel zu den Nachbarn und lässt sich monatlich 10 Dollar bezahlen für den Zugang zu all jenen verbotenen Sendern, welche die Touristen in den Hotels ohne Weiteres konsumieren können.
Carlos wohnt, zusammen mit seiner Freundin, in einer winzigen Wohnung im zweiten Stock eines heruntergekommenen Bürgerhauses an der Strasse des heiligen Josef. Es ist ein hohes Zimmer, in das er auf eigene Kosten eine Zwischendecke und eine Treppe eingebaut hat. Das Zimmer kostete ihn 3000 Dollar, und 1000 musste er an Schmiergeld aufbringen, um die Dokumente zu fälschen, die ihn erst verheirateten, dann wieder schieden und ihn schliesslich als legitimen Eigentümer auswiesen. Der Immobilienhandel ist verboten, der Tausch innerhalb der Familie erlaubt. Den Zement für die Umbauarbeiten wurde von den Renovierungsarbeiten der Altstadt abgezweigt; ich weiss es, denn ich stand Schmiere, als die Transaktion stattfand, der ganze Bautrupp war daran beteiligt, vom Wachmann bis zum Meister, sie verkauften den 50-Pfund-Sack zur Hälfte des Ladenpreises und besserten damit ihren Monatslohn ein bisschen auf, der zwischen 8 und 12 Dollar beträgt.
Unterwegs im Schatten
Also, Kumpel, sagte ich, als wir in seinem Zimmerchen sassen, erzähl, was ist los in Kuba?
Siehst du nicht, was los ist, antwortete mein Freund. Schau dir bloss meinen Fussboden an, und dann weisst du, was los ist; so abgeschabt, dass die nackte Mauer zum Vorschein kommt. Meine Frau verzweifelt schon, je mehr sie putzt, umso dreckiger wird er.
Komm schon, Carlitos, du kennst die Strasse wie kein anderer, ich will wissen, wie es den Leuten geht.
Er zog die Sonnenbrille von den Augen, sein Goldzahn blitzte, er holte Luft, und noch einmal, und dann sagte er: Die Leute haben Schiss, stöhnte er.
Wovor?
Wovor denn! Sie haben Schiss davor, dass Fidel stirbt. Warum?
Sie glauben, nur er kann sie beschützen? Wovor beschützen?
Vor dem, was kommt.
Am 31. Juli 2006, abends um 19.40 Uhr, verlas sein Sekretär am Fernsehen Fidel Castros Ankündigung, er werde sich einer Operation unterziehen und die Amtsgeschäfte, zum ersten Mal seit 1959, seinem Bruder Raúl übergeben. Seitdem schwebt der Revolutionsführer zwischen Auferstehung und Himmel, und in- und ausserhalb des Landes wird spekuliert, was nach seinem schon oft von den Feinden forcierten, schon oft vergeblich angekündigten Ableben in Kuba geschehen wird.
In den nächsten Tagen unternahmen wir zahlreiche Ausflüge in die verbotenen Zonen der kubanischen Seele, wir sprachen über Politik, wir sprachen mit Dissidenten, und wir hielten Ausschau nach Keramikplatten für den Fussboden von Carlos’ Stube.
Seit der Liebschaft mit der Dolmetscherin besitze ich, in aller Ehrlichkeit gesagt, eine gewisse Übung darin, mich im Schatten der kubanischen Legalität zu bewegen, also dort, wo sich die Mehrheit der Bevölkerung aufhält. Damals brachte ich, im Auftrag meiner Freundin, Taschen voller Epa-Damenunterwäsche nach Kuba, die sie zur Hälfte des Preises, der für das Zeugs auf dem Schwarzmarkt bezahlt wurde, verkaufte. Sie erstand sich aus dem Erlös ein Zimmer in der Wohnung eines Genossen, in der ich bei meinen weiteren Besuchen übernachtete; damals hielt noch die Sowjetunion ihre schützende Hand über die Insel, die Nachbarn hielten mich für einen Russen und behandelten mich mit einer Ehrerbietung, die mir seither nie mehr zuteil wurde.
Die Geschichte endete damit, dass der Besitzer der Wohnung, verdientes Mitglied der Kommunistischen Partei, im Vollrausch in eine Hauswand raste. Die Dolmetscherin wurde in die Provinz strafversetzt, später heiratete sie einen ungarischen Konsul, der sie zu Hause in Budapest in der Wohnung einsperrte, während er sich in den Bars herumtrieb, sie floh nach Madrid, wo sie ein Jahr lang illegal lebte, bis sie mit einem norwegischen Schiffsfunker nach Oslo zog.
Wovor haben die Leute Angst?, fragte ich Carlitos, als wir in unserem alten Ford losfuhren.
Sie haben Angst vor der Rache der Exilkubaner in Miami. Sie haben Angst davor, dass die in ihre alten Häuser zurückkehren wollen.
Weisst du, sagte ich, dass nur gerade 10 Prozent der Kubaner, die in den USA leben, wieder auf die Insel zurückkehren wollen? Das zeigen Umfragen, die in Miami gemacht wurden. Und die wollen keine alten Häuser besetzen, sondern Geschäfte machen. Und weisst du, was noch viel wichtiger ist: Die Regierung der USA wird schon aus eigenem Interesse versuchen, die alten rachsüchtigen Exilkubaner zu bremsen. Denn am meisten fürchtet sie sich vor einem Chaos mit einer Massenflucht von einer Million Scheissefressern an ihre Küste.
Carlos lachte. Das leuchtet mir ein, sagte er.
Dann fuhren wir in den Stadtteil Marianao, um zu hören, was Pancho von der Situation hält. Pancho ist ein gross gewachsener Mulatte, Baseballfan und Rundfunkreporter mit vielerlei Kontakten, und wir erfuhren, dass er einen neuen Nebenerwerb gefunden hat, um das Notwendige für seine vier Kinder aufzubringen. Er besitzt eine Digitalkamera und fotografiert damit Kubanerinnen, die für ein Nacktfoto, das von einem Spanier ins Internet gesetzt wird, 20 Dollar bekommen. Der Andrang, verriet er, sei gross. Er wirkte geknickt wie ein geschlagener Boxer.
Du weisst, sagte er, all die grossen Worte wie Ehre, Stolz und Würde sind in Kuba verstaatlicht. Die Regierung braucht sie in ihrem titanischen Kampf gegen die imperialistischen Feinde.
Und sonst, Pancho?
Und sonst wird hier kurzfristig gar nichts passieren, wenn Fidel stirbt. Raúl Castro hat den Laden im Griff, das haben alle gesehen in den letzten Monaten.
Und langfristig?
Das möchten alle wissen. Und niemand weiss es.
Razzia wegen Parabolantennen
Das Gleiche sagte meine Freundin Ana-Paula, Bibliothekarsgehilfin, laut ihrer eigenen, unvergessenen Aussage «der schwarze Engel, den Gott zu schaffen vergessen hat». Ana-Paula verdient 8 Dollar im Monat, sie bezahlt eine Miete von 50 Dollar, und um sie begleichen zu können, versetzt sie hin und wieder ein Exemplar aus den Beständen der Universitätsbibliothek, für das die Archivare auf der Strasse Interesse zeigen.
Das Gleiche sagt meine Freundin Margarita, seit zwanzig Jahren Buchhalterin in der Stadtverwaltung, seit zwanzig Jahren damit beschäftigt, die Statistiken von Produktionsbetrieben nachzuführen, von denen sie weiss, dass sie alle gefälscht sind, weil der institutionalisierte Diebstahl unter Mängel, Ausschuss und Transportschaden aufgeführt ist.
Margarita ist die Einzige meiner Freunde, die nicht lügt, nicht klaut, nichts erfindet, um ihr Salär ein bisschen aufzubessern. Sie ist vierzig und unverheiratet; sie wohnt in einem Häuschen in der Altstadt und ist überzeugt, dass alle Männer, die sich für sie interessieren, es nur auf ihr Zuhause abgesehen haben.
Was immer nach Fidel kommt, sagte sie, für die Leute, die vom Kommunismus leben, wird es schwierig werden. Warum sagst du das, Margarita?
Weil die nicht wissen, was es heisst, zu arbeiten.
Am andern Tag zog der Quartierpolizist durch die Strasse und kontrollierte die Fernsehgeräte in den Wohnungen, um zu sehen, ob illegale Sender zu empfangen waren. Da der Besitzer der Parabolantennen gewarnt gewesen war, hatte er seinen Dienst vorher eingestellt, und niemandem wurde das Gerät konfisziert. Aber wenige Tage später wurde in der Regierungszeitung «Granma» gross über die Verhaftung eines Herstellers von Parabolantennen berichtet. Im Bericht hiess es, die USA würden wöchentlich über dreissig Sender 2306 Stunden Radio- und TV- Sendungen ausstrahlen, als Teil des Planes der Regierung Bush, die Revolution zu zerstören und die kubanischen Werte. Die Programme aus dem Ausland seien kulturell entfremdend, subversiv und mischten sich in die inneren Angelegenheiten Kubas. Eine kurze Umfrage bei Carlos’ Nachbarn ergab folgende Rangliste in der Beliebtheit der ausländischen Sender:
1: der Comicsender,
2. Discovery-Channel auf Spanisch,
3. TVE – das spanische Fernsehen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir auch schon die Bodenplatten für Carlos’ Stubenboden gefunden; der Direktor eines Dollarladens verkauft die Kisten, die er abgezweigt hatte, anderthalb Quadratmeter, für 11 Dollar statt für 24.50, wie sie in seinem Geschäft kosteten.
Dann fuhren wir in einen Vorort von Havanna, es war Mittag, die Sonne warf harte Schatten, wir schepperten durch die Strassen, in der niemand zu schnell ging, niemand zu langsam, was der Stadt etwas Lauerndes gab, als ob im alten Gemäuer Gefahren herrschten, von denen nur die Bewohner ahnten. In Pocitos de Mariano waren die Häuser aus Blech und Holz, und ein Ochsengespann musste unsere Wagen aus einem versumpften Strassenstück ziehen. Wir hatten Glück, und Rodrigo war zu Hause, ein Hexenmeister der afrokubanischen Religionen, ursprünglich Schreiner, doch seit immer mehr Venezolaner herkommen, um sich unter den Schutz der Götter zu stellen, verdient er genug mit seiner Tätigkeit als Mittelsmann zu den Orishas.
Ich stellte eine Flasche Rum auf den Tisch und bat den Babalao, mir mithilfe seiner Meeresschnecken die Zukunft Kubas zu lesen.
Das haben wir Anfang des Jahres getan, antwortete er, und ich kann dir eines sagen: Nichts wird geschehen.
Nichts?, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. Letztes Jahr wurde der Tod eines wichtigen Politikers vorausgesagt und ist auch eingetreten. Er musste einen Moment studieren, bis ihm der Name einfiel: Pinochet, im Dezember.
Aber dieses Jahr? Er machte eine Pause, nahm einen mächtigen Schluck aus der Flasche: Nichts, meine Freunde, kein Tod ist in Sicht. Wir hatten Rodrigo beim Essen angetroffen, und als er jetzt den Teller in die Küche zurückbrachte, warf er einen angenagten Hühnerknochen in eine Badewanne im Flur.
Was tut er da?
Er füttert seinen Kaiman, sagte Carlos. An die Wand war gross ein Auge gemalt, durchbohrt von einem roten Pfeil.
Als Rodrigo zurückkehrte, lachte er. Ich möchte ihn ja sehen, sagte er, wie er plötzlich alles tut, was ihm seine Ärzte sagen. Ich möchte ihn sehen, wie er zum ersten Mal in seinem Leben auf einen anderen Menschen hört.
Denn das alles passiert ihm nur, weil er nie auf jemanden anderen gehört hat, sagte der Babalao, plötzlich wieder ernst. Aber am Ende ist er nicht. Der kommt wieder, das sage ich euch. So ein Teufel ist das, unser Präsident Fidel Castro.
Schutzlos vor der Geschichte
Zurück in Havanna, auf der Galeano, ging das Benzin aus. Während Carlos ein Velotaxi nahm, um den Kanister zu füllen, zog ich meine Kamera hervor, um ein Bildchen zu machen vom grünen Ford Farlane, wie er dastand mit geöffneter Motorhaube, schläfrig wie ein Krokodil am Flussufer.
Immerhin war der alte Schlitten schon für die Polizei des Diktators Batista im Einsatz gestanden, und auf dem Fussboden des Hintersitzes befand sich noch die Eisenhalterung, an der die verhafteten Kriminellen mit Handschellen gesichert wurden – damals mit Sicherheit auch die Studenten, die für die bärtigen Guerilleros in der Sierra Maestra auf die Strasse gingen.
Es war nicht ohne Ironie, dass wir mit diesem keuchenden Instrument der Repression eben bei dem Dissidenten Elisardo Sanchez vorgefahren waren, der uns vorgerechnet hatte, dass Kuba 1958 vierzehn Gefängnisse zählte mit 7000 Insassen, während heute 80 000 Gefangene in zweihundert Anstalten sitzen, darunter 270 politische Gefangene. Sanchez hat selber über acht Jahre im Gefängnis gesessen, sein Haus wurde neunmal von der Staatssicherheit auf den Kopf gestellt, doch er sagte: Kuba braucht Versöhnung, keine Rache. Kuba dürstet nach Veränderungen, und bis in die höchste Parteispitze hinauf wissen alle, dass sich etwas bewegen muss.
Wird sich etwas bewegen?
Ich bin skeptisch. Bis jetzt war es Fidel, der sich gegen jede Art von Öffnung gewehrt hat. Aber Raúl hat die gleichen Gründe wie er, nichts zu verändern.
Welche Gründe?
Die Angst, dass ein Prozess der Lockerung aus dem Ruder läuft. Und dass sie plötzlich schutzlos dastehen vor der Geschichte und sich für ihre Handlungen verantworten müssen.
Dieses Regime hat, man sollte es nicht vergessen, etwa 5000 Leute füsilieren lassen.
Und plötzlich war Aufregung in der schläfrigen Stadt, ein gross gewachsener Mensch stürzte sich auf mich, entriss mir die Kamera, ich rannte ihm über zwei Blöcke nach, schrie wie ein Blöder «Dieb! Dieb!», mindestens fünfzig Leute waren Zeuge, niemand rührte sich.
Als Carlos zurückkam, war er sehr empört, dass so etwas ausgerechnet in seinem Viertel geschah, und er fragte die Leute, ob sie den Dieb erkannt hätten. Niemand hatte ihn erkannt, aber alle verteidigten nun den Umstand, dass sie nicht eingegriffen hatten, mit den folgenden Argumenten:
1. Warum sollte ich einer Polizei helfen, die eh nur da ist, um die Bevölkerung zu schikanieren?
2. Der Dieb könnte einen bewaffneten Komplizen haben, und wer will schon einen Messerstich einfangen für einen Gringo, der
3. einem unter Umständen nicht mal 50 Dollar gibt für die Hilfeleistung oder, schlimmer noch, den Helfer des Diebstahls beschuldigt, weil
4. für die Gringos alle Schwarzen gleich aussehen und sie nicht fähig sind, den einen Scheissefresser vom andern zu unterscheiden.
Um nach Pinar del Rio zu reisen, 120 Kilometer westlich von Havanna, mietete ich ein Auto. Carlos kannte ein privates Restaurant in einem Naturpark nahe der Stadt, wo man für 5 Dollar Langusten essen konnte. Dort angelangt, erfuhren wir, dass das Wirtepaar wegen des illegalen Verkaufs von Staatseigentum (Langusten) im Gefängnis sass. Aber, sagten die Nachbarn, auch wir bieten Langusten an.
Keine Angst vor dem Gefängnis?, fragte ich.
Risiko, sagte die Frau mürrisch und verschwand in der Küche.
Wir übernachteten in einer privaten Unterkunft. Die Kinder der Vermieter waren alle in den USA, die Älteste über die Heirat, der zweite dank einer Green Card, und der Jüngste war vor Monaten mit einem Boot geflohen, 10 000 Dollar kostete es, die Geschwister bezahlten.
Für einen Dollar bewachte ein 73-jähriger Mann das Auto, für das es keinen Unterstand gab. Als Erstes klappte der Alte, erfahren im Wächteramt, die Aussenspiegel ein. Andernfalls, klagte er, würden die Jungs auf dem Velo vorbeirasen und dem Gefährt mit der Machete die Ohren abschlagen. Die Leute tun alles für einen Dollar, sagte der Alte. Schau nur mich an.
Ich schlief ein mit dem Bild dieses apokalyptischen Reiters, der auf dem Velo durch die Strassen braust und mit wütenden Säbelhieben parkierte Autos amputiert. Später sah ich, dass die abgeschlagenen Teile von den Fahrradtaxis als Rückspiegel benützt werden.
Was dann?
In Pinar del Rio besuchte ich Dagoberto Valdez, der am Bischofssitz eine kirchliche Zeitung herausgibt, die einzige geduldete Schrift in Kuba, die nicht die Meinung der Regierung weitergibt. Dafür allerdings stand der ausgebildete Ingenieur unter Hausarrest und musste, statt in seinem Beruf zu arbeiten, zehn Jahre lang die Plätze und Strassen der Stadt putzen. «Alle spüren», schrieb Dagoberto in der jüngsten Ausgabe von «Vitrai», «dass etwas zu Ende geht.
Und alle spüren, dass sich nichts verändert.» Er schrieb von der Angst und Unsicherheit, die in der Bevölkerung herrschen. Ohne den Namen Fidel Castros zu nennen, schrieb er von der «Kultur des Taubennests», die dort entsteht, wo sich alle Hoffnung und alle Macht in einem Caudillo versammelt, in einem Messias. Keiner lernt zu fliegen, keiner wagt es, eine Reise auf eigene Faust zu unternehmen, alle warten mit geöffnetem Schnabel und leerem Kopf, dass ihnen alles vorgekaut und erklärt wird, «eine Kultur der kindlichen Abhängigkeit, des gütigen Paternalismus», schrieb Dagoberto, «die zwar wenig gibt, gerade genug zum Leben, die aber das verschafft, was sich alle wünschen: Geborgenheit und Sicherheit». Aber, schrieb er weiter: «Wir alle wissen, dass es keine messianischen Sicherheiten gibt, wir alle wissen, dass alles vorbeigeht und alles anders wird.»
Was wird anders werden in Kuba?, fragte ich den Autor der Zeilen. Vielleicht machen es die Demütigungen, die bis heute anhalten, vielleicht ist die Nähe zu all den kirchlichen Würdenträgern daran schuld, aber Dagoberto Valdez bewegt sich wie ein gelernter Pfarrer, den Kopf gebeugt, die Hände gefaltet, ein Lächeln des Duldens und der ewigen Bescheidenheit auf den Lippen. Erst wenn er spricht, spürt man die Kraft und Klarheit, die Dagoberto Valdes zu einer der wichtigsten oppositionellen Stimmen im Land machen.
Kurzfristig ändert sich nichts, sagte er. Fidel Castros Krankheit hat dem Regime eine wunderbare Gelegenheit gegeben, den Machtwechsel zu üben.
Talibane der Karibik
Mittel- und langfristig gibt es diese drei Szenarien:
1. Das Regime führt eine Wirtschaftsreform durch, erlaubt den Privatbesitz, und in der Folge erlauben politische Reformen ein Mehrparteiensystem.
2. Venezuela wird zum neuen grossen Bruder Kubas, der das System unterstützt, wie es früher die Sowjetunion tat. Das würde die Wirtschaftskrise verstärken und das Land noch mehr isolieren.
3. Es gibt einen internen Machtkampf, in dessen Folge Kriminalität und Gewalt zunehmen und es zu einem massiven Exodus aus Kuba kommt.
Und dann zählte Dagoberto Valdes die verschiedenen Gruppierungen auf, die unterschiedliche Interessen haben und die gegenüber Raúl Castro nicht die gleiche Gefolgsbereitschaft aufbringen wie gegenüber Fidel.
Einerseits die alten Kommandanten, die noch in der Sierra Maestra gekämpft haben, alle über siebzig. Andererseits die Offiziere, die an russischen Akademien ausgebildet wurden und in Angola gekämpft haben. Einerseits die wirtschaftlichen und diplomatischen Technokraten, andererseits Fidel Castros ideologischen Wachhunde, «Talibane» genannt, und zu denen Felipe Perez Roque zählt, der Aussenminister.
Was ist das wahrscheinlichste Szenario, Dagoberto? Ich bete für Nummer eins. Am Schlimmsten für Kuba wäre Nummer drei.
Als wir nach Havanna zurückfuhren, lagen im Kofferraum sechs blutige Pakete und, falls jemand den Wagen durchsuchen sollte, einige Jahre Gefängnis – wenigstens für die einheimischen Beteiligten.
Carlos hatte über dunkle Kanäle sechs Jutias gekauft, Nagetiere, die es nur auf den Karibischen Inseln gibt und die auf Bäumen und Felsen leben; der Jäger hatte sie mit Hunden gejagt und mit einer selbst gefertigten Schrotpistole geschossen.
Gehen wir zu Mama Francisca, sagte ich.
Mama Francisca ist die Seele Kubas. Als Fidel Castro Batista verjagt hatte, war sie ein junges Mädchen und zog für zwei Jahre in die Berge, um die Bauern zu alphabetisieren. Sie war auch Karnevalskönigin, mit ihren siebzig Jahren ist sie immer noch eine leidenschaftliche Tänzerin, und für ihre revolutionären Verdienste hat sie auch ein Häuschen bekommen, irgendwo am Meer, wo sie manchmal ein Zimmer vermietet.
Und natürlich gab es ein grosses Hallo, und ohne lang zu fragen, warf Mama Francisca das Getier in die Pfanne und erzählte von ihrem Besuch in Deutschland, wo sie ihren Sohn besucht hatte, der eine Deutsche geheiratet hat.
Den Schnee habe ich berührt, jubelte sie, und auf einem Berg war ich, ein Tritt mehr, und ich hätte den Himmel berührt, und meine ganze Farbe ist mir abhandengekommen, rief sie, diese ganze knusprige Mulattin, die vor dir steht, wurde ganz weiss, und wie war ich froh, nach Kuba zurückzukommen.
So erzählte sie, und das Tier schmeckte nicht schlecht, obwohl es aussah wie eine grosse Ratte, und als ich sie fragte, wie das hier alles weitergehen wird, wenn Fidel Castro stirbt, sagte sie:
Dann bricht das alles zusammen.
Wie meinst du das? Denkst du an einen Aufstand?
Hör auf, du Dummkopf. In den Köpfen bricht alles zusammen. Danach muss keiner kommen und etwas von Revolution und Sozialismus erzählen. Kein Mensch glaubt mehr daran.
http://www.dasmagazin.ch/
Sehr schöner Artikel ... ich habe einige Male schmunzeln müssen ... weil mir vieles soooooooooo bekannt vorkam ....
Die kubanische Realität ist in der Tat sehr doppelbödig und subtil .... ... Nichts ist so wie es scheint ..... Ein Kubaner hat immer viele Gesichter ...reine Überlebenstaktik ....
Nur tumbe Revolutionsfanatiker werden dies ignorieren ....
Nur die Döfsten glauben, Kubaner würden von ihrem "Einkommen" leben .... (allein schon das Wort "Einkommen" ist ein Scherz) ... )
In Antwort auf:
In Pinar del Rio besuchte ich Dagoberto Valdez, der am Bischofssitz eine kirchliche Zeitung herausgibt, die einzige geduldete Schrift in Kuba, die nicht die Meinung der Regierung weitergibt.
Dafür allerdings stand der ausgebildete Ingenieur unter Hausarrest und musste, statt in seinem Beruf zu arbeiten, zehn Jahre lang die Plätze und Strassen der Stadt putzen.
In Antwort auf:
Die Dolmetscherin wurde in die Provinz strafversetzt, später heiratete sie einen ungarischen Konsul, der sie zu Hause in Budapest in der Wohnung einsperrte, während er sich in den Bars herumtrieb, sie floh nach Madrid, wo sie ein Jahr lang illegal lebte, bis sie mit einem norwegischen Schiffsfunker nach Oslo zog.
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