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Auf der Sieger-Straße
In Antwort auf:
VON JÖRG WIGAND
FOTOS: JULIA KNOPAuf der Sieger-Straße
Sie haben jede Chance – und die nutzen sie: Von klein auf greifen Kubas Kinder zum Ball, zum Boxfäustling, zum Laufschuh. Mit hartem Training lernen die Besten, überall die Ersten zu sein. Nicht fürs große Geld, sondern vor allem fürs Vaterland und für eine Umarmung von Fidel. So machen sie ihre kleine Insel zu einer der erfolgreichsten Sportnationen der Welt
Warum nur schreien sie sich so furchtbar an? Was erregt sie, dass sie mit den Armen fuchteln, einander ins Wort fallen, ein paar Schritte weggehen, wieder zurückkommen, um erneut ohne Punkt und Komma endlose Litaneien abzulassen? Ist es die Politik, die sie in Rage bringt? Das amerikanische Handelsembargo? Ein neuer Attentatsversuch auf den Comandante en Jefe? War der letzte Rum schlecht? Geht es um Frauen, tödliche Eifersucht, Schuld oder Unschuld, die endgültigen Wahrheiten?
Es geht um viel mehr. Es geht um alles. Um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Es geht um Béisbol, die Sache des Herzens. Sind die Industriales nicht das Top-Team Havannas? Oder vertreten die Metros die Hauptstadt besser? Und warum nur, um Himmels willen, warum nur konnte es diesen elendigen Provinzlern aus Santiago gelingen, Landesmeister zu werden?
Die Arbeit ruht. Der Friseur legt die Schere beiseite, der Bauarbeiter die Kelle, der Müllmann den Besen. Kubas Männer, die alle Eide darauf leisten, dass schon Kolumbus hier auf der Insel mit Ball und Schläger spielende Indianer gesehen habe, dass somit die amerikanischste aller Sportarten in Kuba erfunden worden sei, Kubas Männer also haben immer Wichtigeres zu tun, als für ein paar lumpige Pesos ihr Tagwerk zu verrichten. Es muss ja auch erörtert werden, wie die abtrünnigen Compañeros Omar Linares und Antonio Pacheco bei den New York Yankees säckeweise Dollars gescheffelt haben. Wie der Kerl Hernández in Japan die Liga aufmischt. Und wie all die anderen kubanischen Pitcher und Catcher den Chinesen in Taiwan zeigen, wo der Hammer hängt.
Und während also die Männer mit weit aufgerissenem Mund und großen Augen die Arme schwingen, um einen imaginären Hartball auf die Reise zum Home-Run zu schicken, sind gleich nebenan – immer irgendwo um die Ecke – fixe Jungs mit nacktem Oberkörper, die sich die Gelegenheit für ein paar harte Schläge in einem freien Hinterhof nicht entgehen lassen. Was bedeutet: volle Deckung für alle, die des Weges kommen.
Niemand aber, der ihnen deswegen böse wäre. Denn Fidel, der auch einmal ein richtiger kubanischer Junge war, ist noch immer dem Spiel verfallen, das ihn um ein Haar zum Profi in der amerikanischen Liga gemacht hätte. US-Talentscouts hatten ihn schon als Werfer im Auge, ehe sie sich doch anders entschieden, weil sein Baseball zwar gut, die Kontrolle des Spiels aber nicht ausreichend gewesen sei. Also wurde er kein Profi, sondern Fidel. Und als solcher jener Mann, der es zuließ, dass 1999 zum ersten Mal nach der Revolution von 1959 wieder ein amerikanisches Major-League-Team nach Havanna zum Kräftemessen kam. Leider haben die Baltimore Orioles vor 55 000 enttäuschten Zuschauern und einem beleidigten Oberkommandierenden das Spiel im Estadio Latinoamericano gewonnen. Doch bei der Revanche in der Heimat des Klassenfeindes drehte die kubanische Nationalmannschaft, zweifacher Olympiasieger und vielfacher Abonnement-Weltmeister, den Spieß um und stellte die alte Ordnung wieder her. „Cuba, Número uno en Béisbol – eso es, Hombres“, so ist das nun mal.
Nummer eins im Nationalsport, der acht Monate lang viermal pro Woche und live im Staatsfernsehen die Massen mobilisiert. Die Kubaner sind getreue Jünger ihres Máximo Líder, der einst die Parole ausgab: „El Deporte es Derecho del Pueblo.“ Sport als Recht des Volkes also, schon recht. Aber was ist Sport ohne Siege? Nichts, Compadres. Und so siegen sie an allen Fronten und machen ihre kleine Insel, wo nur elf Millionen Menschen leben, aber auf jeden 370. Kubaner ein Sportlehrer oder Trainer mit Hochschulabschluss kommt, zur relativ gesehen erfolgreichsten Sportnation der Welt.
Elf von 29 Medaillen der Olympischen Spiele von Sydney anno 2000 waren aus Gold, das gab den neunten Platz in der Nationenwertung. Traumhaft für ein Land, das kaum größer ist als die ehemalige DDR. Und Erfolg genug für Fidel, um sich die Souveränität für diesen Scherz zu leisten: „Was sind die drei größten Errungenschaften der Revolution? Gesundheit, Bildung und Sport. Und was sind ihre drei größten Mängel? Das Frühstück, das Mittag- und das Abendessen.“
Sie haben ihre drei Mahlzeiten am Tag, wohl schmeckend oder nicht. Sie sind satt. Und gleichzeitig hungrig. Hungrig nach jenen Privilegien, die das arme Land seinen Besten zukommen lässt: Auslandsreisen, eine Hand voll Dollar mehr als dem Rest, eine freie Wohnung, ein Auto, landesweite Anerkennung, einen Job in der Sportbehörde, die Umarmung von Fidel. Also hauen sie rein und quälen sich, die Boxer, Leichtathleten, Fechter, Kanuten, Hand-, Basket-, Volley- und Wasserballer, die Ringer, Gewichtheber und Taekwondo-Spezialisten unter den 920 Schülern der einsam und allein mitten in der Walachei gelegenen Escuela de Iniciación Deportiva Escolar (EIDE) von Cotorro, einem Nest weit außerhalb Havannas.
Wir haben sie besucht und das Geheimnis der kubanischen Sporterfolge sofort kapiert: halbtags Schule von 8 bis 12, danach Sport von 14 bis 17 Uhr. In Cotorro gibt’s 88 Sportlehrer für die 10- bis 16-jährigen Jungs und Mädchen, die sich in den (in jeder Kommune des Landes beheimateten) Combinados Deportivos für die EIDE qualifiziert haben. 40, vielleicht 50 von ihnen werden es bis zur nächsten Stufe schaffen, dem Centro de Alto Rendimiento Nacional (CEAR), dem Zentrum für Hochleistungssport. Bestehen sie auch dort, dann wartet die Nationalmannschaft.
Das ist das erste Geheimnis kubanischer Sportlerherrlichkeit. Das zweite heißt Rastersichtung: bis zu 30 000 übers Land verstreute Sportlehrer, insgesamt 14 EIDE in den Provinzen. Knallharter Zentralismus durch nationale Leistungszentren, organisiert vom Sportinstitut INDER, und immer rigidere Anforderungen an die im Netz hängen bleibenden Talente. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. So macht man Medaillengewinner.
Darauf haben sich eingelassen, gerne und stolz, die jungen Burschen und Mädchen der EIDE von Cotorro. Obwohl es nicht immer ein Spaß ist, zehn Monate im Jahr in der Einöde dieses spartanischen Sportinternats zu leben, sondern Arbeit und schwerer Leistungsdruck. Doch die Zukunft, sie kann so süß sein. Sie kann für alles entschädigen. „Todos los Campeones, mundiales y olímpicos, salieron de las EIDE“, sagt Alberto Mendiva, stellvertretender Direktor des Internats. Alle Champs also durchliefen die systematische Ausbildung. Die Leichtathletik-Olympiasieger Yoelvis Quesada, Iván Pedroso, Javier Sotomayor, Anier García, die Volleyball-Stars Alain Roca und Regla Torres, Baseballer wie Yasser Gómez, Boxer wie Félix Savón, Roberto Balado und Ariel Hernández.
Ach ja, die Boxer. Ab den sechziger Jahren wurden sie vom alten DDR-Meistertrainer Kurt Rosentritt auf Weltniveau getrimmt. 20 000 an der Zahl, 4000 davon auf internationalem Niveau: ein Reservoir an Talenten wie nirgendwo sonst auf dem Globus. Lange Jahrzehnte nun schon und immer noch sind sie das Aushängeschild Kubas, lange bevor man auch in anderen olympischen Disziplinen den Anschluss an die Besten der Welt fand. Teófilo Stevenson zum Beispiel, dreimal Welt- und dreimal Olympiasieger im Schwergewicht, ist von allen immer noch der Größte – und der Typischste. Eine Million Dollar, bar auf die Hand, für einen Schaukampf in Las Vegas gegen Muhammad Ali hat er ausgeschlagen, weil ihm Millionen Kubaner wichtiger waren als der schnöde Mammon im Sündenpfuhl des Kapitalismus. Schön blöd, oder?
Félix Savón, sein Nachfolger und kaum weniger erfolgreich, erklärt die Motive der noblen Selbstenthaltung: „Ich bin der Sohn eines einfachen Bauern. Durch den Sport bin ich so weit gekommen, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich stehe in der Schuld meines Vaterlandes und werde dafür ewig dankbar sein. Mit allem Geld dieser Welt könnte ich mich nicht wohler fühlen.“ Was unterm Strich auch für ihn hieß: kein Profivertrag trotz vieler guter Angebote.
Fidel nämlich, der verhinderte Berufssportler, hatte nie einen Zweifel gelassen: sportlicher Wettstreit ja, mit allen und auf allen Ebenen, aber niemals fürs große Geld. Kubas Sportler als Botschafter der Revolution sind keine Söldner. Also blieben Stevenson wie Savón im Land, fahren Lada, ernähren sich redlich von ein paar Dollar (als Repräsentanten des Sportinstituts INDER) – und trauern keine Sekunde verpassten Gelegenheiten nach. Denn es war und ist ja sowieso alles klar: „El Comandante en Jefe ha ordenado“, der Chef hat es befohlen. Ende.
Wie lässt sich eine solche Genügsamkeit verstehen? Fragen wir die jungen Ringer auf ihren zerschlissenen Matten, die Boxer vor ihren geflickten Sandsäcken, die Taekwondo-Kämpfer mit ihren notdürftigen Ohrenschützern, die Fechterinnen in ihrem gestopften Anzug, die Leichtathleten in ihren von Klebeband zusammengehaltenen Nikes. Fragen wir also die muskelgestählten Kinder der Revolution in der Sportschule von Cotorro nach ihren Wünschen. Träumen sie von Geld? Von einem gut dotierten Vertrag im Ausland? Von einem Leben wie Orlando „El Duque“ Hernández, der aus seinem Land mit einem Ruderboot floh, um in den USA als Baseballstar zu leben?
Und das bekommen wir als Antwort zu hören: „Schön, viel Geld zu haben. Aber können sie zurückkommen auf unsere Insel, der Duque und die anderen Flüchtlinge? Können sie ihre Heimat wieder sehen? Du musst verstehen, wovon wir reden. Wir sprechen von einem Verlust, der viel schwerer wiegt als Dollars.“
Das ist er, der wahre Grund für die sportlichen Erfolge Kubas: die Liebe der Menschen zu ihrer Heimat. Der Stolz darauf, Kubaner zu sein und als Mitglied der Nationalmannschaft das Vaterland repräsentieren zu dürfen. Diese einzigartige, sympathische Mischung von Sozialismus und Naivität. Und deswegen waren es auch nur wenige, ein paar Dutzend, die ihre Auslandseinsätze als Chance zur Abkehr von Kuba genutzt haben. Der Verrat an der Heimat, er ist immer noch ein Verrat des Herzens. Dann lieber zu Hause ein Held ohne Dollarkonto als woanders ein Star ohne Nestwärme. Dieses Gefühl hatte die alte DDR nicht zu bieten.
http://www.adac-verlag-gmbh.de/magazine/...tagen/sport.php
Moskito
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