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LUST UND LEID EINER METROPOLE
LUST UND LEID EINER METROPOLE
Australien, Brasilien, China ... - die Welt ist in Berlin quasi um die Ecke. Denn Menschen aus 182 Ländern leben mit ihrer Kultur und ihren Traditionen in der Stadt. Eine Entdeckungsreise,
Teil 1: Peru
Die Spät-Auswanderin
Von Wiebke Hollersen
Die kleine Frau bewegt sich langsam. Vorsichtig klettert sie aus dem Bus, der fast direkt vor der Tür des Ibero-Amerikanischen Instituts gegenüber der Neuen Nationalgalerie hält; sie trippelt die paar Meter bis zur Institutstür, leicht gebeugt unter einer riesigen grauen Jacke.
Raquel Sañudo, 86, legt fast jeden Tag diesen Weg zurück. Ob sie den Weg beschwerlich findet? Ach was, ganz und gar praktisch sei die Verbindung mit dem Bus von ihrer Wohnung in Schöneberg, sagt sie. Sie fahre gern mit der BVG, fügt sie hinzu. An der Tür des Instituts fragt der Pförtner, wie es ihr heute gehe. Dann sagt er: "Die Begrüßung, die Sie mir jelernt haben, die kann ick noch." Raquel Sañudo blinzelt ihm zu, auch wenn er sie heute auf Deutsch begrüßt. Der Pförtner ist vielleicht Ende fünfzig, 30 Jahre jünger als sie. So alt wie Raquel Sañudo war, als sie nach Berlin kam.
Wann das genau war, daran erinnert sie sich auf Anhieb nicht. "Die Daten verlieren sich", sagt sie und fragt: "Wann fanden die Weltfestspiele der Jugend in der DDR statt?" Es war 1973. Da wird Raquel Sañudos Tochter nach Ost-Berlin zu dem sozialistischen Jugendtreffen eingeladen. Die Tochter studiert an der Universität Lima. Natürlich nimmt sie die Einladung an. Aus Berlin ruft sie die Mutter an: Sie habe sich verliebt, in einen West-Berliner, sie bleibe in Deutschland. "Was sollte ich mich aufregen? Man muss das Leben leben", sagt Raquel Sañudo. Sie sagt es in Spanisch, so klingt es für deutsche Ohren noch poetischer: "Vivir la vida." "Das Leben leben. Es gibt nichts Wichtigeres."
Ein Visum für die Oma
Raquel Sañudo wird 1919 in der peruanischen Hauptstadt Lima in eine Händlerfamilie geboren. Als sie anderthalb Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Die Halbwaise wird von der Familie verwöhnt und lernt, ihren Kopf durchzusetzen. Etwa, als es darum geht, was ein anständiges Mädchen mit ihrem Leben anzustellen hat. Studieren? Unmöglich, findet die Familie. Der Vater erlaubt es ihr dann doch, Raquel studiert Verwaltung und etwas, was man heute mit Öffentlichkeitsarbeit übersetzen würde. Sie sei in einer Welt groß geworden, die von Traditionen des 19. Jahrhunderts geprägt war und Frauen vom gesellschaftlichen Leben ausschloss, sagt Raquel Sañudo. "Aber ich habe mich nie von Traditionen fesseln lassen."
Das Leben leben, das hieß für sie auch, nicht zu heiraten. Mit Mitte dreißig wird sie Mutter; sie zieht ihre Tochter allein auf und arbeitet, erst bei der Industriebank von Peru, dann im Wohnungsbauministerium und für die Handelskammer. Als die Tochter ein paar Monate in Berlin ist, schreibt sie der Mutter von einer Messe, die "Partner des Fortschritts" heißt. Kleinaussteller aus Afrika, Asien und Lateinamerika präsentieren in Berlin seit 1962 einmal im Jahr ihre Waren. Die Messe gibt es noch in abgewandelter Form, seit 1995 heißt sie Importshop. Aus Peru ist kein Aussteller dabei, bis Raquel Sañudo kommt. Sie reist mit Warenmustern von einem halben Dutzend Firmen an und ist begeistert: Was für eine Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen!
Noch mit Ende achtzig macht ihr nichts mehr Spaß, als Menschen miteinander bekannt zu machen. In ihrem Notizbuch stehen die Nummern aller halbwegs prominenten Peruaner in Berlin, sie kennt Musiker, Köche, Professoren alter Indianer-Sprachen.
Bei ihrem zweiten Besuch der Messe, 1976, wird ihre Enkelin geboren. Beim dritten Besuch von Raquel Sañudo wird die kleine Pamela ein Jahr alt. Der Oma fallen zum ersten Mal die Kinder auf, die in Berlin nachmittags durch die Straßen laufen, "vielleicht sechs Jahre alt, mit einem Schlüssel um den Hals". Sie fragt, was mit diesen Kindern los sei, und hört, dass die Kleinen allein nach Hause gehen, weil ihre Mütter arbeiten. "Das war schlimm für mich. In Peru ist kein Kind allein zu Hause, da ist immer jemand da, eine Tante, eine Oma, ein Hausmädchen." Raquel Sañudo entschließt sich, in Berlin zu bleiben. Von einem Tag auf den anderen, wie ihre Tochter zuvor. Das Leben leben, unabhängig sein - für Raquel Sañudo steht das nicht im Widerspruch zum Familiensinn. Im Gegenteil. Unabhängig kann man auch von einem Job sein.
Sie kündigt ihre Arbeit in Lima per Post. In Berlin zieht sie bei Tochter und Schwiegersohn ein. Die Tochter geht arbeiten, die Mutter kümmert sich um Pamela, später auch um den jüngeren Marco. Sie verlängert immer wieder ihr Touristenvisum; als das nicht mehr geht, beantragt sie eine Aufenthaltserlaubnis. "Um meine Enkel zu pflegen. Ich glaube, die Ausländerbehörde fand mich sympathisch", sagt sie. Sie bekommt die Erlaubnis, später einen dauerhaften Aufenthaltstitel. "Deutschland hat mich immer gut behandelt", sagt sie.
Es ist wahrscheinlich gar nicht so leicht, in Berlin einen zweiten Immigranten zu finden, der so einen unbedingten Willen hat, in der Stadt aufzugehen. "Ich liebe Berlin", ruft die kleine alte Frau, ihr Blick und ihre Stimme sind ein halbes Jahrhundert jünger als sie. Die späte Zuwanderin sagt, nein, sie habe Lima nicht vergessen. "Der Hafen, der Strand im November, die Familie - ich erinnere mich an alles. Aber meine Nostalgie ist nicht destruktiv." Nur einmal ist sie noch nach Lima gefahren, nach 14 Jahren. Sonst habe es sich nicht ergeben. "Ich habe doch mein Leben hier."
Sie bleibt zwei Monate in Peru, verabschiedet sich von ihrem kranken Bruder. Die Bekannten lachen, als sie Raquel Sañudo reden hören: "Du sprichst komisch", sagen sie. Daran ist Berlin schuld. Mit dem Deutschlernen hat sich Raquel Sañudo schwer getan - zwei Sprachkurse hat sie abgebrochen; was sie heute spricht, hat sie durch Zeitungen, im Fernsehen und auf der Straße aufgeschnappt. Aber ihr Spanisch hat sich in der Stadt verändert. Erweitert, könnte man sagen.
Rund 8 500 Menschen aus fast 20 lateinamerikanischen Ländern leben in Berlin. 2 000 Brasilianer, je 1 200 aus Kuba und Peru, der Rest verteilt sich von Mexiko bis Chile. Lateinamerikaner kommen heute vor allem aus zwei Gründen nach Deutschland: um zu studieren oder weil sie sich verliebt haben. Arbeits- und Armutsemigranten zieht es viel eher in die geografisch näheren USA oder in das kulturell nähere Spanien. Aus politischen Gründen muss kaum noch jemand aus Lateinamerika emigrieren. Als Raquel Sañudo kam, war das anders. Ihre Heimat Peru etwa wurde zwischen 1968 und 1980 von einer Militärjunta regiert, in den 1980er-Jahren bekämpften sich die linksgerichtete Guerilla "Leuchtender Pfad" und die Regierung blutig. Raquel Sañudo, die sich als familiäre, nicht als politische Migrantin bezeichnet, sagt, dass sie auch des Krieges wegen nicht öfter zurückgereist sei.
Vielleicht fiel es ihr auch leicht, die neue Heimat anzunehmen. In Berlin leben die Latinos in einer großen Gemeinschaft. Allenfalls manche der Portugiesisch sprechenden Brasilianer bleiben unter sich. Oft trifft man auch Spanier oder Portugiesen auf einer der mexikanischen Vernissagen, kubanischen Salsa-Partys oder chilenischen Konzerte, die so gut wie jeden Tag stattfinden. Jenseits der Feiern ist das Ibero-Amerikanische Institut ein wichtiger Treffpunkt.
Ein Land aus Sprache und Kultur
"El Ibero es mi casa", sagt Raquel Sañudo. Das Institut ist meine Wohnung, meine Heimat, heißt das. Es reicht, eine Viertelstunde mit ihr an einem der Tische im Eingangsbereich zu sitzen, um das zu glauben. Ihre Augen huschen die ganze Zeit durch die Halle, alle paar Minuten erspäht sie einen Bekannten. "Hallo, Landsmann!", ruft sie einem jungen Mann zu und erklärt kokett: "Das ist ein Spanier." Wenn man sich wundert und nachfragt, streicht sie sich das weiße Haar ein bisschen zurecht und richtet sich auf. Sie ist stolz auf diese Heimat und ihre kleine Prominenz. Ihre Landsleute sind alle im Institut. Das Land ist ein imaginäres, es besteht aus Sprache und Kultur, niemand braucht ein Visum, um einzureisen.
Raquel Sañudo interessiert sich auch für Deutschland, "natürlich, die Kultur, die Geschichte, für alles". Einen Kulturschock, sagt sie, hatte sie nie. Sie hat in Berlin mit 56 ein neues Leben begonnen, das ja. "Ich habe Hausarbeit gelernt", sagt sie. In dem Peru, in dem sie bis dahin lebte, waren Dienstmädchen auch in der Mittelschicht kein Luxus, sondern Alltag. In Berlin kauft Raquel Sañudo zum ersten Mal in ihrem Leben selbst Lebensmittel. Sie lernt zu kochen und zu putzen - während die Deutschen sie für ihren rückständigen Kontinent bedauern. Lateinamerika, bei dem Wort denken die Berliner Ende der 1970er-Jahre vor allem an Solidaritätskampagnen und Folklore. Ein wenig ist das heute noch so.
Raquel Sañudo zieht ein Foto aus ihrem Portmonee, von Santiago, ihrem Urenkel. Der blonde, runde Zweijährige ist der Sohn der Enkelin, wegen der Raquel Sañudo einst in Berlin geblieben ist. Die Uroma hat Santiago noch nicht oft gesehen, er lebt mit seiner Mutter in Lima. Die Enkelin hat dort studiert, sich verliebt, ist geblieben. Sie arbeitet jetzt im Außenhandel von Peru. Sie ist wieder da, wo ihre Großmutter 1977 aufbrach.
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http://www.berlinonline.de/berliner-zeit...lin/545044.html
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