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Wo die Orishas wohnen
21. Juli 2004, 02:11, Neue Zürcher Zeitung
Wo die Orishas wohnen
Die afrikanische Yoruba-Kultur erkämpft sich ihren Platz
Das Erbe der mit nigerianischen Sklaven nach Kuba gelangten afrikanischen Hochkultur der Yoruba wurde über lange Zeit verdrängt oder geächtet. Heute ist das Zentrum der Yoruba-Vereinigung in Havanna ein Forum für Kunstausstellungen, Forschung und Konferenzen sowie innerkubanischen und internationalen Austausch.
Auf dem hölzeren Empfangstresen des Museo de Orishas von Havanna liegen die eng bedruckten Zettel mit der Neujahrsbotschaft der kubanischen Babalawos. Jedes Jahr ziehen sich die 500 wichtigsten Priester der Santería am 30. Dezember zur traditionellen Befragung der Götter, der Orishas, zurück. Zwei bis drei Tage später geben sie dann ihre Jahresprognose bekannt, die seit einigen Jahren auch im Radio und Fernsehen ausgestrahlt wird. Ein Beispiel für die gestiegene Akzeptanz gegenüber einer Religion, die lange Zeit diskriminiert wurde, sagt Antonio Castañeda, der Präsident der kulturellen Yoruba-Vereinigung Kubas.
Die Jahresprognose hat eine grosse Bedeutung für die Anhänger der Santería. Und deren Zahl ist in den letzten Jahren merklich gestiegen. 65 Prozent der Gläubigen in Kuba hängen der Santería an, betont Antonio Castañeda und geht durch den prächtigen Eingangsbereich des Museo, das in einem frisch sanierten spanischen Kolonialhaus untergebracht ist. Castañeda, der mittlerweile sein Büro im ersten Stock des Gebäudes erreicht hat, beruft sich auf Angaben der Akademie der Wissenschaften. Überprüfen lassen sich derartige Zahlen nicht, denn die Babalawos führen keine Kirchenregister wie andere Konfessionen.
Allerdings lässt sich die Präsenz der Santería auf den Strassen des Landes kaum übersehen. Komplett weiss gekleidete Menschen sieht man immer wieder, und in 99 Prozent der Fälle kann man davon ausgehen, dass es sich um Yabos, Novizen der Santería, handelt. Ein Jahr lang verpflichten sich die frisch Initiierten dazu, auf farbige Kleidung zu verzichten. Für sie und alle anderen Anhänger der Santería sind die in der Neujahrsprognose, der Letra del año, formulierten Vorschläge für das individuelle Verhalten genauso wichtig wie die darin enthaltenen Warnungen vor Klimakatastrophen und Seuchen oder die Ankündigung des Todes von religiösen wie politischen Führern.
Zentrum mit vielen Facetten
Beinahe täglich kommen Yabos im Museo de Orishas vorbei. Die einen, um die umfangreiche Bibliothek der Kulturvereinigung zu nutzen, die anderen, um im afrikanischen Restaurant zu essen, und wieder andere, um die gegenwärtige Ausstellung oder das eigentliche Museum zu besuchen. Geführt wird das Museum von Daneya Perez, die seit drei Jahren im Zentrum arbeitet. Die 29-Jährige betreut Künstler, die im Museum ausstellen, und wenn es ihre Zeit zulässt, begleitet sie Besucher durch die Dauerausstellung im ersten Stock. Dort sind die wichtigsten Orishas, die Heiligen, der Santería, versammelt. Die mannsgrossen Statuen aus Ton sind nach alten Zeichnungen aus Nigeria angefertigt worden und liebevoll in einer Landschaftsdekoration im grossen Saal des Gebäudes arrangiert. Oggún, der Herr der Metalle, steht mit seinem Hammer auf einer Lichtung in einem Wald, während Olosa, die Herrin der Lagunen, am Strand einer Bucht sitzt.
32 Orishas zählt das Pantheon der Santería in Kuba, über 600 sind es in Nigeria, wo die Wiege der Yoruba-Religion steht, erklärt die Führerin. Auch sie hängt der Yoruba-Religion an. Yemahá, die Göttin des Meeres, und Ochún, die Göttin der Weiblichkeit, sind ihre Schutz-Orishas, die jeweils ein Pendant unter den katholischen Heiligen haben. Der Grund dafür ist einfach: Die katholische Kirche hatte den Sklaven die Religion ihres Ursprungslandes verboten und zwang sie, stattdessen die katholischen Heiligen anzubeten. Die Sklaven orientierten sich jedoch nur an den Farben der Gewänder der katholischen Heiligen und ordneten diesen dann einfach diejenige Yoruba- Gottheit zu, die traditionellerweise mit derselben Farbe assoziiert wurde. So entsprechen die Farben der heiligen Jungfrau von Regla, Blau und Weiss, denen der Yoruba-Gottheit Yemahá, während Ochún Gelb trägt - die Farbe der Caridad von El Cobre.
Lange war die Santería in Kuba geächtet; erst Anfang der neunziger Jahre, als die kommunistische Partei Kubas ihren Atheismus ablegte und sich für die Anhänger aller Religionen öffnete, trat sie stärker in die Öffentlichkeit. «Da war der Zeitpunkt gekommen, unsere Vereinigung von Babalawos, die ‹Asociación Ifá ayer, Ifá hoy, Ifá mañana›, auch offiziell anerkennen zu lassen», erklärt Castañeda. Dem wurde am 17. Dezember 1991 stattgegeben, worauf die «Asociación Cultural Yoruba de Cuba» im Januar 1992 gegründet werden konnte. Fünf Jahre später erhielt die Vereinigung das heruntergekommene Gründerzeithaus im Herzen der Altstadt, gegenüber dem Capitolio, als Sitz von den Regierungsstellen zugewiesen. Über Spenden der internationalen Yoruba-Gemeinschaft aus dem Ausland und Kredite wurden die 2 Millionen US-Dollar für die Sanierung aufgebracht, und Castañeda legt Wert darauf, auf die Unabhängigkeit der 6000 Mitglieder zählenden Vereinigung hinzuweisen.
Die ist ausgesprochen rührig. Erst im August letzten Jahres wurde der 8. Weltkongress «Tradition und Kultur der Orishas» in Kuba ausgerichtet, und das alltägliche Angebot des Zentrums ist breit gefächert: Kurse für Kinder und Erwachsene, Ausstellungen, Konzerte und Gottesdienste finden regelmässig statt. Durch die vielfältigen Aktivitäten ist das Zentrum auch ausserhalb der Santería-Gemeinde bekannt geworden, urteilt Daisy Rubiero Castillo. Die Ethnologin nutzt gelegentlich die Bibliothek des Zentrums und ist als Spezialistin für afrikanische Religionen in Kuba und darüber hinaus bekannt.
400 Jahre Diskriminierung
Diese Glaubensformen wurden bis zur kubanischen Revolution mehr oder minder im Verborgenen praktiziert. Erst nach der Revolution von 1959 kam es zu einer Revitalisierung. Ein Grund war der máximo líder Fidel Castro persönlich: Viele Babalawos schrieben ihm übersinnliche Kräfte zu, da er es geschafft hatte, den Schergen des Diktators Fulgencio Batista zu entrinnen und ihn schliesslich sogar zu stürzen. Sympathien gewann Castro auch mit seinem Eintreten gegen Diskriminierung und Rassismus.
Offiziell definiere sich Kuba längst als ein Land ohne jegliche Diskriminierung. Allerdings seien Vorurteile und Stigmatisierungen nicht von heute auf morgen verschwunden, meint Daisy Rubiero. Jeder wisse, dass es nicht zuletzt infolge der wirtschaftlichen Krise zu einer Renaissance von Vorurteilen gegen dunkelhäutige Kubaner gekommen sei, so die aus Santiago de Cuba stammende Ethnologin. Stigmatisierungen im Zusammenhang mit der Prostitution habe es genauso gegeben wie eine diskriminierende Einstellungspraxis im Tourismussektor. Sie selbst habe einmal ein Schild an einem Hotel gesehen, wo ausdrücklich eine hellhäutige Kubanerin gesucht worden sei. Daraufhin habe sie die Geschäftsleitung aufgefordert, das Schild abzunehmen.
Kein Einzelfall für die resolute Frau; aber die politische Führung will sie von den Vorwürfen ausgenommen haben. Raúl Castro habe auf dem letzten Parteitag des nationalen Frauenverbandes sehr klar auf derartige Fälle hingewiesen und gefragt, was das solle. Seitdem sind die Gerüchte, dass im Tourismussektor schwarze Bewerber geschnitten werden, leiser geworden. Gleichwohl sind sich Castañeda und Rubiero einig, dass mit dem Appell Raúl Castros die versteckte Diskriminierung der schwarzen Bevölkerungsminderheit in der kubanischen Gesellschaft nicht beendet ist. Beide sehen das Phänomen als historisches Problem an, das 400 Jahre alt und nicht per Federstrich zu entsorgen sei.
Offene Zentren wie das Museo de Orishas seien darauf eine gute Antwort. Und auch die zunehmende Akzeptanz der Yoruba-Religion in der weissen Bevölkerungsschicht spricht für diese Argumentation. Hellhäutige Yabos sind in Kuba im Strassenbild nicht mehr die Ausnahme. Auch der alte Mann, der seinen Karren mit der Figur des heiligen Lazarus am Museum vorbeischiebt und um eine Spende für Babalú Ayé, das Yoruba-Pendant zum katholischen Heiligen, bittet, ist weiss.
Knut Henkel
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2004/07/21/fe/page-article9J9OG.html
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