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Nur die Ruhe
Nur die Ruhe
Baracoa ist Kubas älteste Stadt. Sie pflegt den Müßiggang wie keine andere
Von Merten Worthmann
DIE ZEIT REISEN - 19.05.04
Der Tresen ist verwaist, die Regale sind leer, und auch im Hinterzimmer scheinen weder Kekse noch Kuchen verborgen. In der zentralen Konditorei von Baracoa gibt es momentan einfach ganz und gar nichts zu kaufen, weshalb die vier anwesenden Bäcker sich auch das Recht herausnehmen, einfach ganz und gar nichts zu tun. Sie plaudern miteinander, entspannt in eine Ecke gelehnt, und haben keinen Blick für den zufälligen Kunden. Dessen Augen wandern durch den leeren Raum und lesen von den Wänden die mit schwungvollen Buchstaben gemalten zweifarbigen Sinnsprüche ab, mit denen das Kollektiv irgendwann einmal den Betrieb verziert hat. Zum Beispiel diesen: »Die Qualität liegt nicht in den Dingen, die der Mensch macht; sie liegt im Menschen, der die Dinge macht.«
Wer Baracoa erleben will, sollte alle Hoffnung auf Sehenswürdigkeiten fahren lassen und einfach durch die Straßen ziehen
Foto: David Alan Harvey/Magnum/Agentur Focus
Aha. Wenn also der Mensch das eigentliche Qualitätserzeugnis ist – warum soll er sich dann wegen der Dinge verrückt machen, statt die Aufmerksamkeit auf sich selbst ruhen zu lassen und damit basta? Es könnte sein, dass in Baracoa, am östlichen Ende Kubas, die landestypische Mangelwirtschaft und der landestypische Hang zum Müßiggang besonders bequem miteinander auskommen. Überall sonst auf der Insel geht es jedenfalls hektischer zu, vor allem natürlich in der Hauptstadt Havanna, wo heutzutage immer mehr ausländische Joint Venturer unterwegs sind, wo sich deshalb auch die ungeduldigsten Kubaner sammeln, wo mithin die Einkommensunterschiede immer größer und sichtbarer werden und also der Druck beständig steigt. Aber noch jede Provinzhauptstadt hat einen schnelleren Puls als Baracoa, weil wenigstens der Verkehr laufend durch sie hindurchfließt. Baracoa dagegen liegt einfach außen vor. Am Rand. Da kommt man nicht zufällig vorbei; da muss man schon hinwollen.
Schnell ein paar Bohnen aussäen, den Rest des Tages wird gepicknickt
Baracoa hält etwas auf sich. Eine Menge sogar. Schließlich war man zuerst da. Und kein Geringerer als Christoph Kolumbus hat seinerzeit alles angestoßen. Am 27. November 1492 ist er hier vor Anker gegangen und dann, widrigen Wetters wegen, eine ganze Woche geblieben (womöglich ein erster Müßiggänger). Zum Abschied ließ er ein Holzkreuz zurück, mit dem die Indios der Umgegend damals nichts anzufangen wussten, das heute freilich als größter Schatz der städtischen Kirche gilt. Schon Kolumbus’ Bordbuch verzeichnet den Vorschlag, an Ort und Stelle eine Stadt zu gründen, was knapp 20 Jahre später Diego Velázquez macht, nachdem sich der spanische Hof zur Kolonialisierung der Insel entschlossen hat. 1511 wird Baracoa zur ersten Stadt Kubas und also auch zur Hauptstadt gekürt.
Schon vier Jahre später reicht Velázquez allerdings die Hauptstadtwürde an Santiago de Cuba weiter – der zentralerer Lage wegen. Baracoa bleibt zurück, immerhin mit seinem eigenen Stolz. Das Stadtwappen trägt bis heute den Spruch: »Mögen Kubas andere Städte größer sein, ich bleibe doch die allererste!«
Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Baracoa von der ersten Adresse zum letzten Ziel hinter den Bergen gewandelt. Erst in den siebziger Jahren wurde mit der windungsreichen Höhenstraße La Farola eine ordentliche (und zugleich wunderschöne) Zufahrt über Land gelegt. Aber viele Touristen scheuen den Umweg. Wer für seinen Urlaub nach Havanna oder in die Strandkolonie Varadero einfliegt, dem kommt schon der Weg in Richtung Osten bis Santiago de Cuba weit vor. Nun müsste man noch einmal mindestens fünf Stunden Bus fahren. Kann ein verschlafenes Städtchen aus Holz diese Mühe wert sein?
Es kann. Man muss nur alle Hoffnung auf herausragende historische Bauwerke fahren lassen und einfach durch die Straßen gehen. Das typische Haus in Baracoa ist einstöckig, direkt ans nächste gebaut, es hat ein Ziegeldach und eine farbig gestrichene Holzfront, große Fenster, eine große Tür und eine große, schattige Veranda mit schmalen, eleganten Säulen. So haben die Bewohner viel Platz, um in ihren Schaukelstühlen halb drinnen, halb draußen dem gemächlich vorbeiziehenden Leben entgegenzulungern.
Die Kubaner überhaupt, aber die Baracoenser im Besonderen sind Meister im Kommenlassen und Gehenlassen, im Zeitvertreib mit kleiner Münze, aber im großen Stil. Zeit gibt es reichlich, viel mehr als Arbeit, und geübte Baracoenser sagen dem Besucher auch ohne jede Scham, dass ihnen ein neuer Job einfach deshalb besser gefällt, weil sie dort noch weniger arbeiten müssen. Havanna, der fernen Hauptstadt, wird von hier aus zwar zugestanden, womöglich fürs Geldverdienen gut zu sein, ansonsten aber beklagt der Baracoenser rundheraus die Aufgeregtheit der Metropole, selbst wenn er noch niemals dort war, und lobt die Zurückgelehntheit in seiner Stadt. Das eint den Rentner, der sowieso nur noch eine ruhige Kugel schieben kann, und den jungen Wilden, der mal kurzzeitig aufbraust, weil in der ganzen Stadt nur ein halbes Schlagzeug existiert: Ja, in Havanna wär’s anders! Aber nein: dann doch Baracoa, der Langsamkeit zuliebe!
Der junge Wilde, Anfang zwanzig und angestellt im städtischen Kulturhaus, sitzt morgens um halb zehn im Feld und wartet. Zwei Kollegen sind noch neben ihn in den Schatten des einzigen Baumes gestreckt, der zwischen Tomaten- und Bohnenpflanzungen Platz hat. Alle drei sehen von Zeit zu Zeit hinüber zum hintersten Bohnenfeld, auf dem gut zwanzig Freiwillige mehr oder weniger kundig noch immer ein paar Samen in die Erde senken. Einmal im Monat werden die Kulturarbeiter der Stadt zu einem cambio de labor, einem Aufgabenwechsel, aufs Land geschickt. Der eigentliche Job ruht für einen Tag, stattdessen muss Feldarbeit geleistet werden. Aber gemach! Die Bohnenaussaat ist nach einer Stunde durchgestanden, und als das auch die Organisatorin einsieht, zieht der jüngere Teil der kulturellen Aushilfen zum Rio Miel, um ein ausgedehntes Picknick mit Bad zu veranstalten. Am nächsten Morgen wird man den zurückgebliebenen Kollegen davon erzählen, wie erschöpft man frühabends schon ins Bett gefallen sei.
Als Reisender allerdings hat man mitunter Mühe, sich dem Müßiggang anzuschließen. Denn dem Touristen wird auf Baracoas Straßen eine Art freibeuterische Aktivität zugewandt. Jedes zerstreute Herumstehen zieht fast zwangsläufig ein paar junge Geschäftemacher an, die unter Vorspiegelung fröhlicher Freundschaftsanbahnung zügig zu diesem oder jenem Sonderangebot vorstoßen, das sie in aller Freundschaft dem Reisenden anzubieten hätten. Über die letzten fünf Jahre, während der Tourismus auf Kuba boomte, haben sich die Tricks erheblich verfeinert. Einem Mann, der weibliche Begleitung zart abweist mit dem Hinweis auf nachkommende Freunde, können die herangesprungenen Kubanerinnen auch spontan entgegnen: Deine Freunde waren eben schon da; die sind jetzt tanzen gegangen; nimm uns mit, dann zeigen wir dir, wo. Freilich gibt es mittlerweile in der Stadt auch ein paar Langzeittouristen, die, wenn es Not tut, schamlos zurücklügen können. Ein Italiener etwa hat eigens für seine Baracoenser Freundin, die auf schnelle Heirat drängt, ein italienisches Gesetz erfunden, das ihm, dem erst im Vorjahr Geschiedenen, noch für vier weitere Jahre die Neuvermählung untersagt.
Baracoa ist klein, der Stadtkern schnell durchmessen. Es schadet nichts, immer wieder mal durch die gleichen Straßen zu ziehen, zu unterschiedlichen Tageszeiten – und dabei etwa zu bemerken, dass der klobige Kasten auf der Plaza José Marti kein Vogelhaus ist, sondern einen Fernseher verbirgt, der abends angeschaltet wird.
Zwei Stunden Mittagspause sind dem Parkdirektor zu wenig
Aber wer nach Baracoa kommt, wird sich auch aus der Stadt herausbewegen, denn rundherum wuchert die Natur üppig über die Hügel, es gibt gleich vier Flüsse in der Nähe, an deren Ufern es idyllisch blüht und an deren Mündungen die liebsten Strände der Einheimischen liegen. Und dann gibt es das Wahrzeichen Baracoas, den Yunque (übersetzt: Amboss), einen Berg, der tatsächlich wie platt geklopft aussieht und hinter allen anderen palmenbewachsenen Anhöhen noch einmal ordentlich aufragt. Jeder Baracoenser möchte ihn besteigen, ein festes Vorhaben, aber schließlich, ach, die Anstrengung!, unternehmen es nur wenige.
ZEIT-Grafik
Touristen dagegen werden kaum von den 560 Metern Höhe abgeschreckt, eher von den Untiefen der Landesverwaltung. Weil die Firma für Naturparkpflege mit der Firma für Naturparkvermarktung über Kreuz liegt (beide selbstverständlich staatlich), ist den örtlichen Parkführern bis auf weiteres verboten, Ausländer auf den Yunque zu bringen. Begleitung ist jedoch Pflicht. Was tun? Man könnte den Parkdirektor anrufen und um eine Ausnahmegenehmigung nachsuchen, doch gleich, von zwölf bis zwei, hat er Mittagspause und ist deshalb auch schon eine Viertelstunde vorher nicht mehr zu erreichen. Oder man redet und redet, immer schön ruhig, auf den Führer ein, bis der, ganz baracoensisch, den so genannten dicken Blick macht, den vista gorda, und den Fremden allein passieren lässt. Nach zwei Stunden zauberhaften Fußmarsches durch Palmenhaine, an Kaffeebäumen, Baumfarnen und einer Andeutung von Regenwald vorbei kann man oben auf dem Yunque noch einmal sehr deutlich sehen, warum es Baracoa immer so schwer hatte, Anschluss zu finden. Tatsächlich drängen rundum die Berge bis fast an die Küste heran. Sehr schön und hervorragend geeignet für einen ausgedehnten Dornröschenschlaf.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts kam ein Landstreicher des Wegs, von Spanien her, der den Einheimischen erzählte, er habe eine Vision gehabt und daraufhin alle seine irdischen Reichtümer weggegeben. Wie der so genannte Pelú in Baracoa dahinlebte, in Lumpen und mit struppigem Bart, das gefiel den Leuten nicht, und sie verjagten ihn schließlich mit Steinwürfen. Er aber sprach zum Abschied eine Verwünschung aus: Die Stadt möge zwar große Träume haben, werde diese jedoch nie verwirklichen können und also ewig zurückbleiben.
Pelú hat Recht behalten. Und die Baracoenser sind es zufrieden. Sie können sich weiter entspannt in den Abend schaukeln – und im Zweifelsfall einem Landstreicher die Schuld geben, wenn wieder mal ein Plan im Müßiggang zerrieben wird.
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